Artikel 09/02/2016

Naturheilkunde bei ADHS: Helfen Homöopathie, Phytotherapie und Achtsamkeitstraining?

Team jameda
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Ständig in Bewegung, impulsiv, unkonzentriert: Rund fünf Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland leiden unter dem „Zappelphilipp-Syndrom“ ADHS. Manche Eltern scheuen sich, ihren Kindern Medikamente zu verabreichen, wissen aber gleichzeitig, dass sie aktiv werden müssen, um ihr Kind zu unterstützen. Ist Naturheilkunde ein Ausweg? Helfen Homöopathie, Phytotherapie und Achtsamkeitstraining? Das wollte jameda von der Carstens-Stiftung wissen, die sich in Zusammenarbeit mit einem engagierten Netzwerk der wissenschaftlichen Forschung zu Komplementärmedizin verschrieben hat.

jameda: Zu den häufigsten Nebenwirkungen von Ritalin, einem der gängigen ADHS-Pharmazeutika, gehören Schlaflosigkeit, Nervosität und Kopfschmerzen. Problematisch sind aber nicht nur die Nebenwirkungen, denn die Medikamente scheinen keine langfristige Wirkung zu haben. Wann sind naturheilkundliche Mittel eine gute Alternative oder Ergänzung zu gängigen ADHS-Präparaten wie Ritalin?
Dr. med. Christian Lucae: Naturheilkundliche Mittel können bei diversen Beschwerden eingesetzt werden, die bei ADHS als Begleiterscheinungen auftreten. Allerdings werden längst nicht alle Patienten mit dieser Diagnose primär medikamentös, also z.B. mit Methylphenidat (Ritalin) oder anderen Medikamenten behandelt, sondern werden mit einer sogenannten multimodalen Therapie auch durch Psychoedukation, Verhaltenstraining und Elternschulung betreut. Aber selbst wenn sich die Betroffenen für eine medikamentöse Therapie entscheiden, können zusätzlich homöopathische Mittel, Phytotherapeutika und hydrotherapeutische Anwendungen angewandt werden. Diese können auch bei den Problemen wie Schlaflosigkeit, Nervosität und Kopfschmerzen eine gute Hilfe sein.

jameda: Laut einer Studie (Frei et al.) konnten bei 75 Prozent der teilnehmenden ADHS-Patienten eine Verbesserung von 73 Prozent erreicht werden. In der Tat gibt es mehrere Studien, die zeigen wollen, dass homöopathische Mittel positive Wirkungen auf ADHS-Patienten haben. Sind diese Studien belastbar und entsprechen sie den gängigen Qualitätsstandards?
Daniela Hacke: Trotz Überlegenheit der homöopathischen Behandlung kann keine uneingeschränkte Empfehlung ausgesprochen werden, weil die Probandenzahlen zu niedrig waren und eine Vergleichbarkeit zwischen den Studien wegen Unterschieden in den Medikationsformen (Einzelmittelhomöopathie, Tief- und Hochpotenzen, Komplexmittel) nicht gegeben ist.

jameda: Gibt es weitere Studien zur Homöopathie bei ADHS?
Daniela Hacke: Ein Cochrane-Review aus dem Jahr 2007 (Coulter MK, Dean ME) kommt zu dem Ergebnis, dass die zu dem Zeitpunkt vorhandenen Studien nur eine eingeschränkte Evidenz für die Wirksamkeit von Homöopathie in der ADHS-Behandlung aufzeigen. Eine homöopathische Behandlung der ADHS-Symptome bei betroffenen Kindern ist als Einzeltherapie vielleicht nicht zu empfehlen, aber im Rahmen einer multimodalen Therapie.

jameda: Welche homöopathischen Mittel werden bei ADHS verabreicht? Was müssen Patienten oder die Eltern betroffener Kinder bei der Einnahme beachten?
Dr. med. Christian Lucae: Da die Arzneien in der Homöopathie grundsätzlich nach ausführlicher Anamnese individuell ermittelt werden und die homöopathische Arzneimittellehre über mehrere hundert gut bekannter Mittel verfügt, ist die Auswahl sehr groß. Aus der berühmten ADHS-Doppelblind-Studie des Schweizer Kinderarztes H. Frei, in der ein deutlicher Effekt der homöopathischen Therapie gezeigt werden konnte, kennen wir die am häufigsten verordneten Mittel, darunter Calcium carbonicum, Sulphur, Chamomilla, Lycopodium, Silicea und viele andere. Bei der Einnahme – in der Regel in Form von Globuli – ist ein ausreichender Abstand zum Essen oder Zähneputzen zu empfehlen, damit sich die Arznei im Mund auflösen und ungestört wirken kann.

jameda: Heilpflanzen wie Baldrian, Kamille oder Melisse sind für ihre beruhigenden  Effekte bekannt. Ist ihre Wirkung so stark, dass sie sogar die Symptome von ADHS-Patienten lindern können?
Dr. med. Christian Lucae: Natürlich ist das möglich, darin liegt kein Widerspruch.

jameda: Heilpflanzen sind meist in Form von Tabletten, Tropfen oder Tee erhältlich. Welche Darreichungsform ist am effektivsten?
Dr. med. Christian Lucae: Es kommt auf die Dosis an, die in einer Tasse Tee, in Tropfen oder Tabletten enthalten ist. Üblicherweise werden Medikamente aber so angereichert, dass sie eine deutlich höhere Dosis enthalten als beispielsweise Teebeutel.

jameda: Ab welchem Alter können Kinder mit ADHS Heilpflanzen und Homöopathika bedenkenlos einnehmen?
Dr. med. Christian Lucae: Bei homöopathischen Arzneien, also Einzelstoffen wie beispielsweise Calcium carbonicum, gibt es keine Altersgrenze. Bestimmte Heilpflanzen sind, je nach Wirkstoff und Präparat, erst ab einem bestimmten Alter zugelassen. Mehr dazu im Beipackzettel.

jameda: AHDS-Patienten fällt es in der Regel schwer, sich zu konzentrieren. Könnte den Betroffenen Achtsamkeitstraining helfen? 
Dr. rer. medic. Anna Paul: Wir leben in einer Welt, in der es uns allen immer schwerer fällt, uns auf jeweils nur eine Tätigkeit zu konzentrieren, zu vielfältig sind die oft virtuellen Ablenkungen und multiplen Aufgaben, die wir uns stellen. Und je weniger wir uns einer Sache widmen können, desto zerstreuter, belasteter und unglücklicher werden wir. Unsere Kultur ist von Aufmerksamkeitsdefizit geprägt. Studien mit ADHS-Patienten zeigen, dass sich mit gezielter Achtsamkeitspraxis die Aufmerksamkeitssysteme im Bewusstsein und die Selbstregulationsfähigkeit stärken lassen (Schmiedeler, 2015[1]).

jameda: Welche Auswirkung hat Achtsamkeitstraining noch?
Dr. rer. medic. Anna Paul: Die Fähigkeit zur konzentrierten und gelassenen Präsenz im Moment tut allen gut. Denn die Momente, in denen wir mit unseren Sinnen ganz wach, ganz anwesend und ganz bei uns sind, nähren unser Gefühl für uns selbst, für unser kostbares Lebendigsein und für unsere Beziehung zu anderen Menschen, Tieren, der Natur und der Welt. In solchen achtsamen Momenten gibt es meist nichts zu tun. Wir „sind“ dann vor allem. Wir sprechen ja auch vom „Glücklichsein“ und nicht vom „Glücklichtun“.

jameda: Wie lernen Patienten am besten, achtsamer zu sein?
Dr. phil. Nils Altner: Halten Sie einen Moment inne. Schließen Sie die Augen und nehmen Sie bewusst wahr, wie der Atem in Ihre Nase oder Ihren Mund strömt, wie sich die Atemräume in Ihrem Körper weiten und sich mit dem Ausatemzug wieder entspannen, wenn die Atemluft den Körper wieder verlässt. Räkeln Sie sich, strecken Sie Ihren Körper und fühlen Sie sich lebendig und warm. Wenn Sie das immer wieder mehrmals am Tag wiederholen, fördern Sie damit ihre Konzentrationsfähigkeit enorm. Sie spüren sich, nehmen Ihre Belastungsgrenzen und Bedürfnisse wahr und fühlen sich mehr mit sich und der Welt verbunden.

jameda: Haben Sie noch einen Tipp, den Sie ADHS-Patienten mit auf den Weg geben möchten?
Dr. med. Christian Lucae: Nach wie vor wird die Diagnose „ADHS“ häufig unbedacht in den Mund genommen und vorschnell gestellt, beispielsweise bei unkonzentrierten Kindern in der Schule. Vor Beginn einer Therapie ist eine exakte Diagnostik in jedem Fall zu empfehlen.  
Dr. phil. Nils Altner: Ein weiterer Tipp: Gönnen Sie sich jeden Tag viele Momente, um in sich hinein zu spüren. Fühlen, riechen, schmecken Sie. Spielen Sie mit Kindern und Tieren. Gehen Sie in die Natur. Beachten und genießen Sie Ihr Leben!

jameda: Vielen Dank für das Interview!

[1] Schmiedeler S. (2015): Mindfulness-based intervention in attention-deficit-/hyperactivity disorder (ADHD)]. Z Kinder Jugendpsychiatr Psychother. 2015 Mar;43(2):123-31. doi: 10.1024/1422-4917/a000341.

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