Artikel 20/04/2016

Atomkraft: Welche Gesundheitsschäden drohen?

Team jameda
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30 Jahre Tschernobyl, 5 Jahre Fukushima: In diesem Frühjahr jähren sich zwei Atomkatastrophen, die weltweit Bestürzung auslösten. Was waren aus der Retroperspektive betrachtet die gesundheitlichen Folgen dieser beiden Ereignisse? Welche Gesundheitsschäden können Atomkraftwerke und Atommüll in Deutschland hervorrufen? Das wollte jameda von Dr. Rosen wissen, stellvertrender Vorsitzender der deutschen Sektion der „Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges – Ärzte in sozialer Verantwortung e.V.“ .

jameda: Wie sicher sind Atomkraftwerke?
Dr. Rosen: Keine Technik kann je hundert Prozent sicher sein. Solange die Konsequenzen eines Fehlers begrenzt oder kontrollierbar sind, kann man damit leben. Das ist bei Atomkraftwerken allerdings nicht der Fall. Tatsächlich sind sie sehr fehleranfällig: Es gibt allein in Europa tausende dokumentierte Störfälle, und das ist nur der Anteil, der an die Öffentlichkeit gelangt ist. Die Folgen eines Unfalls können verheerend sein, wie Fukushima gezeigt hat. Wäre der Wind aus einer anderen Richtung gekommen, hätte Tokyo eine hohe Strahlendosis erhalten können. Dann hätte das ganze Land vor dem Abgrund gestanden, so der damalige japanische Ministerpräsident Naoto Kan. Wir sprechen hier nicht nur von lokal begrenzten Effekten.

jameda: Menschen, die in der Nähe von Atomkraftwerken leben, nehmen gesundheitliche Risiken in Kauf: Im Umkreis von fünf Kilometern steigt die Krebsrate von Kleinkindern um 60 Prozent. Ab welcher Distanz bestehen keine Risiken mehr?
Dr. Rosen: Je näher Kinder an einem Atomkraftwerk leben, desto größer ist das Risiko. In der KiKK-Studie des Mainzer Kinderkrebsregisters wurde nur die Umgebung von max. 50 Kilometer rund um Atomkraftwerke untersucht. Daten für weiter entfernte Regionen gibt es nicht. Studien dieser Art sind sehr aufwendig. In den USA wurde eine ähnliche Studie, die jahrelang vorbereitet wurde, kürzlich eingefroren. Der Druck von Seiten der Atomwirtschaft war anscheinend zu groß.

jameda: Der Super-GAU von Tschernobyl führte dazu, dass über drei Millionen Russen, Weißrussen und Ukrainer starken Strahlenbelastungen ausgesetzt waren. Wie viele von ihnen sind an typischen Folgen wie Krebs, Herzkreislauferkrankungen oder Störungen des Erbgutes erkrankt?
Dr. Rosen: Die Datenlage aus der ehemaligen Sowjetunion ist leider sehr dürftig. Zur gesundheitlichen Entwicklung der meisten LiquidatorInnen, also der Rettungs- und AufräumarbeiterInnen, gibt es keine Zahlen. Von den weißrussischen LiquidatorInnen sind allerdings laut nationalem Krebsregister mehr als 90 Prozent krank. Mehr als 100.000 LiquidatorInnen seien bereits verstorben. Bezüglich der Allgemeinbevölkerung legen Rohdaten der Sowjetunion nahe, dass infolge von Tschernobyl in Europa mit 216.000 bis 840.000 zusätzlichen Krebsfällen zu rechnen ist, etwa die Hälfte davon tödlich. Die Kalkulation der Atomindustrie war vorsichtiger und lässt auf 36.000 bis 140.000 zusätzliche Krebserkrankungen schließen - allerdings ausschließlich auf die drei schwer betroffenen Länder Russland, Weißrussland und die Ukraine bezogen. Die Wahrheit liegt wohl irgendwo dazwischen. Diese Zahlen geben allerdings nur Auskunft über die Krebsraten, andere Gesundheitsschäden sind darin nicht erfasst.

jameda: Welche zum Beispiel? 
Dr. Rosen: Die Liste ist lang. Intelligenzminderung, Fehlbildungen und Totgeburten gehören zu den gesundheitlichen Folgen, die von ionisierender Strahlung begünstigt werden. Hiroshima hat zudem gezeigt, dass das Risiko für Herzkreislauferkrankungen nach radioaktiver Kontamination genauso stark ansteigt wie das Krebsrisiko. Und in West-Berlin wurden unmittelbar nach Tschernobyl dreimal mehr Down-Syndrom-Fälle verzeichnet. Allerdings sind die Zahlen sehr klein: Statt wie in den Jahren zuvor ca. ein bis drei Fälle festzustellen, registrierte man 1987 sieben Neuerkrankungen.

jameda: Rund 600 Millionen Europäer waren geringeren Strahlenmengen ausgesetzt. Können auch niedrigere Dosen radioaktiver Strahlung die Gesundheit schädigen?
Dr. Rosen: Je näher man am Unfallort ist und je mehr Strahlung man abbekommt, desto höher sind die Risiken. Die Effekte in Westeuropa sind jedoch oft so gering und das Statistische Grundrauschen so hoch, dass man viele der Effekte kaum in statistischen Erhebungen sieht. Dennoch gab es beispielsweise 1986/87 in Süddeutschland signifikant mehr Totgeburten als vor-und nachher. Man wird nicht beweisen können, dass dies durch Tschernobyl verursacht wurde, aber plausibel wäre es schon und eine bessere Erklärung kenne ich nicht.

jameda: Die Atomkatastrophe von Fukushima ist jetzt fünf Jahre her. Hat Japan immer noch mit gesundheitlichen Folgen zu kämpfen?
Dr. Rosen: Erst in 25 Jahren wird die Hälfte der Cäsium-Strahlung aus den Böden verschwunden sein. Der Großteil der gesundheitlichen Auswirkungen wird sich erst in der Zukunft zeigen. Schon jetzt sehen wir allerdings einen so nicht erwartete Anstieg der Schilddrüsenkrebsfällen bei Kindern.

jameda: Laut ippnw wurden die Folgen von Tschernobyl und Fukushima systematisch vertuscht, indem sie nur in geringem Ausmaß untersucht oder die entsprechenden Daten geheim gehalten wurden. Sind die Daten der Radioaktivitätsüberwachung des Deutschen Wetterdienstes, die für Deutschland nach Fukushima Entwarnung gab, zuverlässiger?   
Dr. Rosen: Ja. Allerdings ist es mit Daten immer so eine Sache. Es reichr nicht, sie zu sammeln, sie müssen auch ausgewertet werden. Bayerische Forstämter ermitteln beispielsweise die Radioaktivitätswerte von Pilzproben und Wildschweinen. Diese Daten werden aber nicht ausgewertet oder publiziert. Es fühlt sich angeblich niemand zuständig. In der ehemaligen Sowjetunion sind meist Zensur und der Druck atomfreundlicher Regierungen das Problem.

jameda: Inwieweit?
Dr. Rosen: In Weißrussland beispielsweise gibt es keine freie Presse und auch keine freie Wissenschaft. Häufig sind es regierungsnahe Forscher, die Daten auswerten. Kritische Wissenschaftler werden zum Teil daran gehindert, an Kongressen im Ausland teilzunehmen und ihre Standpunkte zu vertreten.

jameda: Hochgradiger Atommüll landet in Castor-Transporten, mittel- und geringgradiger soll Plänen dee Atomindustrie zufolge mit anderem Müll vermischt und ins Recyclingsystem eingespeist werden. Was sind die gesundheitlichen Folgen?
Dr. Rosen: Beide Sorten von Atommüll sind problematisch. Für den hochradioaktiven Atommüll hat bisher niemand eine gute Lösung gefunden, weil keiner weiß, wie man die Brennstäbe über tausende von Jahren sicher verwahren soll. Bei ‘freigemessenem’ niedrig- bis mittelgradig radioaktiven Atommüll, der mit anderen Materialien zu Gebrauchsgegenständen wie Heizungen oder Dosen weiterverarbeitet werden könnte, sind die gesundheitlichen Risiken kaum abzuschätzen.

jameda: Bei Atomreaktorunfällen sollten Betroffene spezielle Jod-Tabletten einnehmen, um sich vor Schilddrüsenkrebs zu schützen. Schluckt man sie 10 Stunden nach einem Atomunfall, wirken sie aber nicht mehr. Wäre es im Ernstfall überhaupt möglich, alle Deutschen rechtzeitig mit Jodtabletten zu versorgen?
Dr. Rosen: Jodtabletten nimmt man am besten 24 bis 48 Stunden, bevor die radioaktive Wolke eintrifft. Bei einer späteren Einnahme verringert sich die Wirkung, bis sie schließlich ganz schwindet. Im Fall der Fälle wäre eine flächendeckende Versorgung wohl schwierig, weil die meisten Länder gar nicht so viele Jodtabletten vorrätig haben. Es gibt außerdem keine einzelne Behörde, die für die Organisation und die Verteilung verantwortlich wäre. In Japan beispielsweise wurden gar keine Jodtabletten verteilt, wohl um die Bevölkerung nicht in Panik zu versetzen.

jameda: Was könnte die Bevölkerung sonst noch tun, um sich nach einem Atomunfall vor Gesundheitsschäden zu schützen?
Dr. Rosen: Es wird empfohlen, die betroffenen Regionen zu verlassen oder sich in Gebäuden in Sicherheit vor radioaktivem Regen, Schnee oder Wind zu bringen. Zu einem Atomunfall sollte es allerdings gar nicht erst kommen. Die überwältigende Mehrheit der Deutschen will keine Atomenergie – den Stromanbieter zu wechseln und politisch Druck zu machen, sind Möglichkeiten, dieser Haltung Ausdruck zu verleihen.

jameda: Vielen Dank für das Gespräch!

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