Artikel 28/11/2015

Mit Medikamenten die Leistung steigern – eine gute Idee?

Team jameda
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Zeitmangel, Stress, Erfolgsdruck: Es gibt viele Gründe, warum Deutsche zu Medikamenten greifen, die die Leistung steigern sollen. Aber wie verbreitet ist Gehirndoping tatsächlich? Wirken die Pillen überhaupt? Und wie sieht es mit den Nebenwirkungen aus? Das wollte jameda von Dr. Sattler von der Uni Köln wissen, der vermeintlich leistungssteigernde Medikamente aus soziologischer Sicht erforscht.

jameda: Was schätzen Sie, wie viele gesunde Menschen nehmen verschreibungspflichtige Tabletten, um ihre Konzentration und ihre Gedächtnisleistung zu verbessern?
Dr. Sattler: Es gibt verschiedene Studien, die sich auf unterschiedliche Bevölkerungsgruppen beziehen. Unter Studierenden liegt der Anteil derer, die mindestens einmal verschreibungspflichtige Tabletten zur Leistungssteigerung genommen haben, bei schätzungsweise fünf Prozent. In der Erwerbsbevölkerung scheint der Anteil etwas geringer zu sein. Die meisten greifen aber nicht kontinuierlich zu solchen Medikamenten. Doch der Anteil derjenigen, die sich vorstellen könnten, solche Tabletten in Zukunft einmal auszuprobieren, ist mit zehn Prozent mehr als doppelt so hoch.

jameda: Der Konkurrenzdruck wächst – steigt damit auch die Akzeptanz für Gehirndoping?
Dr. Sattler: Der Konkurrenzdruck kann natürlich ein Grund dafür sein, solche Medikamente zu nehmen – um besser zu sein als andere, aber auch, um nicht abgehängt zu werden. Ich habe beispielsweise gehört, dass der Chef einer universitären Einrichtung seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ermuntert hat, solche Mittel zu nehmen, um im Wettbewerb mit anderen Einrichtungen zu bestehen. Das birgt natürlich die große Gefahr, dass sich viele aus Angst vor dem Verlust ihrer Stelle „genötigt“ fühlen, zu entsprechenden Medikamenten zu greifen. Nicht nur das: Wenn vermutet wird, dass Kolleginnen und Kollegen solche Mittel nehmen, entsteht ein indirekter Druck, auch Tabletten zu schlucken, um nicht ins Hintertreffen zu geraten. Ähnliche „Ansteckungsprozesse“ kennen wir aus dem Doping im Sport.

jameda: Erzielen Menschen, die ihre Leistung steigern wollen, mit entsprechenden Medikamente tatsächlich die erhoffte Wirkung?
Dr. Sattler: Nach bisherigen Erkenntnissen scheinen die Substanzen nicht bei allen Menschen gleich zu wirken. Personen mit geringeren intellektuellen Basisleistungen profitieren bei Tests meist stärker als Personen mit entsprechend hohem Ausgangsniveau. Bei letzteren wurden sogar Verschlechterungen beobachtet. Das lässt sich beispielsweise damit erklären, dass ein optimales Level an Neurotransmittern nicht weiter gesteigert werden kann. Es gibt auch Studien, die zeigen, dass Personen bei mehrfacher Einnahme ihre eigene Leistungsfähigkeit überschätzen und vermehrt Fehler bei entsprechenden kognitiven Tests machen. Generell steckt die Forschung bei Gesunden jedoch noch in den Kinderschuhen. Viele erachten es als unethisch, gesunde Menschen den potentiellen kurz- und langfristigen Risiken der Medikamenteneinnahme auszusetzen, um leistungssteigernde Tabletten zu finden.

jameda: Vielen geht es nicht nur um mehr Leistung, sondern auch darum, Nervosität und Lampenfieber zu bekämpfen. Warum nutzen Betroffene nicht andere Mittel und Wege, um dieses Ziel zu erreichen?
Dr. Sattler: Es gibt in der Tat viele Möglichkeiten, Problemen wie Nervosität und Lampenfieber zu begegnen, etwa Sport, autogenes Training, Meditation oder einfach eine gute Vorbereitung verbunden mit einem optimalen Zeitmanagement. Da viele dieser Strategien eher langfristigen Charakter haben, dürften Medikamente für manche den Reiz einer schnellen und wenig aufwenden Lösung haben. Und einige derjenigen, die bereits verschiedene dieser Strategien anwenden, greifen vermutlich zusätzlich zu verschreibungspflichtigen Medikamenten, weil ihnen der Effekt sonst nicht ausreicht.

jameda: Sind sich Studenten, die Prüfungen dank Gehirndoping bestehen, ihrer fragwürdigen Handlung bewusst?  
Dr. Sattler: Die Mehrheit der von uns befragten Studierenden lehnt die Einnahme solcher Substanzen zur Prüfungsvorbereitung und auch während Prüfungen aus moralischen Gründen ab – dies gilt im Übrigen auch für die Lehrenden, die wir befragt haben. Es zeigt sich interessanterweise auch, dass Studierende, die die Einnahme solcher Substanzen ablehnen,  auch eher moralische Bedenken beim Abschreiben in Klausuren, Fälschen von Daten oder beim Plagiieren bei  Hausarbeiten haben. Das mag daran liegen, dass die Einnahme solcher Substanzen, ähnlich wie die verschiedenen Formen des Betrugs im Studium als unfair angesehen wird. Dies bestätigt auch eine kleinere Untersuchung unter australischen Studierenden, jedoch meinten hier auch einige Befragte, dass die Einnahme fair sei und Studierende selbst entscheiden sollen, mit welchen Mittel und Wegen sie durch ihr Studium kommen.

jameda: Medikamente, die der Leistungssteigerung dienen sollen, können süchtig machen, die Persönlichkeit verändern und letztlich zu Erschöpfung führen. Machen sich die Studenten Gedanken um die gesundheitlichen Nebenwirkungen des Hirndopings?
Dr. Sattler: Studierende stellen sich bei der Frage, ob und was sie schlucken sollen, mehrheitlich die Frage, ob sie mit Nebenwirkungen rechnen müssen. Die Furcht vor Risiken hält viele davon ab, solche Mittel zu nehmen. Geht es aber beispielsweise um wichtige Prüfungen, dürften einige Nebenwirkungen wie Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit oder Nervosität in Kauf nehmen. Aber wie bei den Wirkungen gilt auch hier: Es gibt zu wenig Studien bei Gesunden – insbesondere Untersuchungen zu Langzeitfolgen fehlen.

jameda: Sind alle Medikamente zur Leistungssteigerung verboten oder gibt es auch Tabletten, deren Einnahme erlaubt ist?
Dr. Sattler: In Deutschland gibt es neben illegalen und verschreibungspflichtigen Substanzen auch solche, die lediglich einer Apothekenpflicht unterliegen. Am populärsten dürften Koffeintabletten sein. Daneben gibt es auch noch frei verkäufliche Substanzen, die auch mit dem Ziel der Leistungssteigerung eingenommen werden. Hierzu zählen Guarana, Gingko oder Vitamintabletten. Viele Mittel dienen allerdings vor allem denen, die sie verkaufen.

jameda: Was meinen Sie, werden sich leistungssteigernde Medikamente immer mehr durchsetzen?
Dr. Sattler: Immerhin jeder zehnte Befragte war in einer unserer Studien bereit,  solche Substanzen zu nehmen. Das sind deutlich mehr als diejenigen, die bisher Erfahrungen damit gemacht haben. Dürften Faktoren wie Stress und Konkurrenzdruck weiter zunehmen, könnte dies einige motivieren, auf Worte Taten folgen zu lassen. Aber auch ein leichterer Zugang, etwa illegal über das Internet, oder nebenwirkungsärmere und wirkungsstärkere Medikamente, die in Zukunft womöglich auf den Markt kommen, würden die Verbreitung der Substanzen sicherlich fördern. Zudem werden in manchen Kreisen immer wieder Forderungen laut, verschreibungspflichtige Tabletten, die der Leistungssteigerung dienen sollen, zu legalisieren. Aber es gibt auch immer wieder Initiativen, die vor Nebenwirkungen und der eingeschränkten Wirksamkeit warnen und versuchen, der naiven Einnahme Einhalt zu gebieten. Es bleibt also abzuwarten.

jameda: Vielen Dank für das Interview!

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