Artikel 11/01/2016

Warum gibt es ständig Verzögerungen beim Ausbau der elektronischen Gesundheitskarte?

Team jameda
Team jameda
verzoegeurungen-elektronische-gesundheitskarte

Anfang Januar soll das neue E-Health-Gesetz in Kraft treten. Nachdem etliche Verzögerungen die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte immer wieder aufgeschoben haben, soll das neue Gesetz den Ausbau nun beschleunigen. Gibt es erneut Verzögerungen, drohen Sanktionen. Aber warum zieht sich der Roll-out der elektronischen Gesundheitskarte in die Länge? Liegt es an kritischen Ärzten, überforderten Unternehmen oder zähen Verhandlungen mit den Verbänden? Das wollte jameda von Dr. Bernnat wissen. Als Lehrbeauftragter der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Uni Augsburg und Geschäftsführer von Strategy& hat er die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte begleitet und wissenschaftliche Beiträge zu diesem Thema veröffentlicht.

jameda: Die elektronische Gesundheitskarte sollte bereits 2006 eingeführt werden, kam aber erst ab 2011 schrittweise auf den Markt. Mittlerweile hat fast jeder Patient seine elektronische Gesundheitskarte erhalten. Warum hat sich das Projekt damals so lange verzögert?
Dr. Bernnat: Die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte kostete bislang rund eine Milliarde Euro und läuft aktuell seit über 10 Jahren – bei Projekten in dieser Größenordnung sind Verzögerungen nichts Ungewöhnliches. Die große Komplexität des Vorhabens und auch der Regierungswechsel 2009, der mit einem festgelegten Aufschub einherging, haben letztlich dazu geführt, dass der ursprüngliche Zeitplan nicht eingehalten werden konnte. Außerdem gibt es systembedingt viele Beteiligte, die mitentscheiden und wenig Möglichkeiten zentraler Beschlussfassungen. Die Schwierigkeit war und ist, die große Anzahl Beteiligter (u.a. 150.000 ambulant tätige Ärzte, rund 2.000 Krankenhäuser, etc.) in dem größten IT-Projekt in Europa über ein sicheres Netzwerk online zu verbinden.

jameda: Waren das die einzigen Gründe für die Verzögerung?
Dr. Bernnat: Komplex sind außerdem die hohen Datenschutz- und Datensicherheitsanforderungen, welche an das Gesamtsystem und die einzelnen Komponenten gestellt werden, sowie der technische Fortschritt, der unaufhaltsam neue Entwicklungen und Möglichkeiten produziert. Die Telematik-Infrastruktur ist in der aktuellen Konstellation in der Lage, diesen höchsten Anforderungen vollumfänglich gerecht zu werden.

jameda: Obwohl auch Ärzte von der elektronischen Gesundheitskarte profitieren, weil sie alle wichtigen Gesundheitsdaten ihrer Patienten – besonders bei Notfällen – gleich zur Hand haben, sprachen sich einige Ärzte gegen die elektronische Gesundheitskarte aus. Fürchten Ärzte die Transparenz, die mit leichter zugänglichen Gesundheitsdaten entsteht?    
Dr. Bernnat: In einem historisch gewachsenen und stark regulierten Umfeld kann zunehmende Transparenz tendenziell als potenzielle Gefahr wahrgenommen werden. Trotzdem spricht sich die breite Masse der Leistungserbringer für die elektronische Gesundheitskarte und die Möglichkeiten zunehmender Digitalisierung aus, da die Vorteile für alle Beteiligten auf der Hand liegen. Weiterer Druck ist durch die langwierigen Finanzierungsverhandlungen entstanden, welcher nun mit Inkrafttreten des E-Health-Gesetzes weitgehend in Form finanzieller Anreize geregelt ist.

jameda: Manche Ärzte befürchten außerdem, dass der Arzt-Patienten-Kontakt leiden könnte, wenn alle Daten elektronisch übermittelt werden. Sind diese Bedenken gerechtfertigt?
Dr. Bernnat: Internationale Beispiele beweisen klar das Gegenteil und zeigen den Nutzen für alle Beteiligten, insbesondere  bei Anwendung der elektronischen Patientenakte. Die elektronische Patientenakte bietet eine gesicherte Grundlage für Diagnose und Therapie, weil Ärzten alle notwendigen Gesundheitsdaten zur Verfügung stehen. Sie ersetzt nicht den persönlichen Kontakt mit den Patienten, sondern ermöglicht vielmehr eine Qualitätssteigerung in der Medizin durch eine gesicherte Daten- und Informationsgrundlage.

jameda: Auch die Datenschützer äußern Bedenken gegen die elektronische Gesundheitskarte und warnen vor dem „gläsernen Patienten“. Wie sehen Sie das?
Dr. Bernnat: Wenn Arbeitgeber, Banken oder Versicherungen Zugang zu Patientendaten hätten, könnte das tatsächlich zu diskriminierendem Verhalten führen. Aber das ist nicht der Fall! Laut Sozialgesetzbuch dürfen nur Heilberufler mit ihrem Heilberufsausweis auf die Daten zugreifen. Die elektronische Gesundheitskarte darf weder mit dem Ausweis noch mit Bankkarten verbunden werden. Außerdem kann der Patient selbst entscheiden, welche Ärzte Zugang zu seinen Daten erhalten.

jameda: Ist die Datenübertragung wirklich sicher?
Dr. Bernnat: Die Datenübertragung mit den hierfür entwickelten Infrastruktur-Komponenten ist viel sicherer als beispielsweise beim Online-Banking. Außerdem sind alleine die Standards für die Prozesse zur Verteilung und Installation der Komponenten, die die Ärzte zukünftig zum Zugriff z.B. auf die elektronischen Patientenakten brauchen, so hoch wie beim Geldtransport.

jameda: Gibt es weitere Gründe, warum der Ausbau der elektronischen Gesundheitskarte blockiert wird?
Dr. Bernnat: Die Gesundheitskarte wird nicht blockiert. Unser Gesundheitssystem ist über 130 Jahre alt, die Grundstrukturen haben sich seither kaum verändert. Technologische Neuerungen in diesem historisch gewachsenen Umfeld ins Rollen zu bringen, erfordert erhebliche Anstrengungen.

jameda: Haben die Ärzte Angst vor neuer Technik?
Dr. Bernnat: Nein! Es gibt heute kaum noch einen Arzt, der das Internet nicht nutzt, um sich zu informieren und sich auszutauschen.

jameda: Momentan unterscheidet sich die elektronische Gesundheitskarte nur durch das Passbild von ihrem Vorgänger. Das soll das kürzlich beschlossene E-Health-Gesetz schnellstmöglich ändern: Ab Mitte 2016 sollen Name und Adresse des Patienten online abrufbar sein. Dafür müssen die Ärzte und Krankenkassen allerdings an ein sicheres Netz angeschlossen sein, welches die Industriepartner laut Presseberichterstattung nicht rechtzeitig bereitstellen können. Es kommt also weiter zu Verzögerungen. Woran liegt das?
Dr. Bernnat: Alle Beteiligten arbeiten mit Hochdruck an der Einhaltung der vereinbarten Zeitpläne, welche nach Beurteilung von strategy& auch eingehalten werden können.

jameda: Wann werden Ärzte und Patienten alle Funktionen der elektronischen Gesundheitskarte nutzen können?  
Dr. Bernnat: Die Voraussetzungen für den Roll-out werden ab Mitte 2016 realisiert sein. Damit verbunden ist die Online-Aktualisierbarkeit der Stammdaten. Zu Sanktionen, die laut neuem E-Health-Gesetz bei Verzögerungen drohen, wird es nicht kommen. Die elektronische Patientenakte, die den Kern bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens darstellt, wird wohl erst nach 2018 verfügbar sein. Darauf müssen die weiteren Entwicklungen bei der Telematik-Infrastruktur fokussiert werden.

jameda: Vielen Dank für das Gespräch!

Die Veröffentlichung dieser Inhalte durch jameda GmbH erfolgt mit ausdrücklicher Genehmigung der Autoren. Die Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und jede Art der Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtes bedürfen der schriftlichen Zustimmung der jeweiligen Autoren.

Die Inhalte der Experten Ratgeber ersetzen nicht die Konsultation von medizinischen Spezialisten. Wir empfehlen Ihnen dringend, bei Fragen zu Ihrer Gesundheit oder medizinischen Behandlung stets eine qualifizierte medizinische Fachperson zu konsultieren. Der Inhalt dieser Seite sowie die Texte, Grafiken, Bilder und sonstigen Materialien dienen ausschließlich Informationszwecken und ersetzen keine gesundheitlichen Diagnosen oder Behandlungen. Es wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Meinungen, Schlussfolgerungen oder sonstige Informationen in den von Dritten verfassten Inhalten ausschließlich die Meinung des jeweiligen Autors darstellen und nicht notwendigerweise von jameda GmbH gebilligt werden. Wenn die jameda GmbH feststellt oder von anderen darauf hingewiesen wird, dass ein konkreter Inhalt eine zivil- oder strafrechtliche Verantwortlichkeit auslöst, wird sie die Inhalte prüfen und behält sich das Recht vor, diese zu entfernen. Eigene Inhalte auf unserer Website werden regelmäßig sorgfältig geprüft. Wir bemühen uns stets, unser Informationsangebot vollständig, inhaltlich richtig und aktuell anzubieten. Das Auftreten von Fehlern ist dennoch möglich, daher kann eine Garantie für die Vollständigkeit, Richtigkeit und Aktualität nicht übernommen werden. Korrekturen oder Hinweise senden Sie bitte an experten-ratgeber@jameda.de.


www.jameda.de © 2023 - Wunscharzt finden und Termin online buchen.

Diese Webseite verwendet Cookies.
Surfen Sie weiter, wenn Sie unserer Cookie-Richtlinie zustimmen.