Artikel 04/05/2016

Was Hypochonder tun können, um ihre Angst vor Krankheiten zu überwinden

Team jameda
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Sie haben Angst vor Lungenkrebs, Herzinfarkt oder Magengeschwüren. Und untersuchen ihren Körper jeden Tag mehrmals auf entsprechende Symptome. Hypochondrie ist eine Angsterkrankung, die bei vielen Betroffenen zwar Scham auslöst, aber häufig unterschätzt wird. Was ein gesundes Angstempfinden von Hypochondrie unterscheidet, was Betroffene selbst tun können und wie eine Therapie helfen kann, die Angst zu überwinden, wollte jameda von Prof. Dr. Martin von der Bergischen Universität Wuppertal wissen, die zu diesem Thema forscht und publiziert.

jameda: Jeder zehnte Erwachsene hat Angst davor, krank zu werden. Bei manchen bestimmt die Sorge um die eigene Gesundheit jedoch das ganze Leben: Schätzungsweise 350.000 Deutsche leiden unter Hypochondrie. Woran erkennen Betroffene, dass ihre Angst behandlungsbedürftige Züge angenommen hat?
Prof. Dr. Martin: Wenn die Angst länger als sechs Monate anhält, die Lebensqualität abnimmt und die Betroffenen ständig zum Arzt gehen, könnte eine Krankheitsangststörung dahinter stecken. Wenn die Angst immer wiederkehrt, obwohl der Arzt Entwarnung gegeben hat, sollten die Betroffenen ebenfalls aufhorchen. Oder wenn sorgenvolle Gedanken erst nach Stunden abklingen.

jameda: Menschen, die sich sehr vor Krankheiten fürchten, bezeichnen sich nur selten als Hypochonder. Der Begriff ist zu negativ belegt: „Die bilden sich das alles nur ein“, ist die landläufige Meinung. Stimmt das?
Prof. Dr. Martin: Die Hypochondrie wird mittlerweile „Krankheitsangststörung“ genannt, um zu verdeutlichen, dass es sich dabei um ein ernsthaftes Problem handelt. Rund 70 Prozent der Betroffenen leiden unter körperlichen Beschwerden wie zum Beispiel starken Kopfschmerzen, die sie als Anzeichen einer schweren Krankheit interpretieren. Rund 30 Prozent haben geringe oder vorübergehende Symptome wie Schwindel- oder Schwächegefühle, hinter denen sie zum Beispiel eine Multiple Sklerose vermuten.

jameda: Krankheitsphobiker neigen dazu, ständig ihren Körper zu beobachten, um nach Symptomen zu suchen. Hilft es den Betroffenen, gezielt nach harmlosen Erklärungen für die Beschwerden zu suchen und ihre Ängste rational zu widerlegen?
Prof. Dr. Martin: Starke Emotionen erschweren den rationalen Zugang in der Regel. Aber es lohnt sich, den Automatismus zu verstehen, der hinter der Angst steckt. Wer seinen Körper verstärkt beobachtet, nimmt auch kleine Veränderungen wahr, die bei den Betroffenen wiederum Angst und Stress auslösen und das negative Körpergefühl verstärken können. Sich klar zu machen, dass wahrscheinlich eine harmlose Ursache der Auslöser der beobachteten Symptome ist, kann helfen, diesen Automatismus zu durchbrechen. Daher ist es sinnvoll, nach gutartigen Auslösern der Beschwerden zu suchen. Bei einer vollausgeprägten Angststörung ist es allerdings schwierig, eine einmalige Einsicht in ein stabiles Verhaltensmuster zu verwandeln.

jameda: Der Drang, dauernd zum Arzt zu gehen, ist bei vielen Betroffenen sehr stark. Wie können sie das ständige Bedürfnis nach Rückversicherung überwinden?
Prof. Dr. Martin: Tritt ein bestimmtes Symptom das erste Mal auf, ist ein Arztbesuch ratsam. Aber wenn die Angst immer wiederkehrt, obwohl der Arzt nichts finden konnte und das Symptom harmlos ist, helfen wiederholte Arztbesuche nicht weiter. Wenn die Angst sehr stark ist, ist es vielen Patienten aber nicht möglich, einfach zu Hause zu bleiben.

jameda: Was dann?
Prof. Dr. Martin: Dann ist es sinnvoll, nur zu festgesetzten Zeitpunkten zum Arzt zu gehen, und nicht dann, wenn die Angst besonders groß ist. So lernt der Patient, die Angst selbst zu bewältigen, bis er immer weniger auf die Rückversicherung des Arztes angewiesen ist. Entspannungsverfahren, Ablenkung oder die Einsicht in die Unverhältnismäßigkeit der Angst können in der Zwischenzeit helfen, die negativen Gefühle zu überwinden.

jameda: Hilft es, sich mit seinen Ängsten zu konfrontieren und beispielsweise Filme über Krebspatienten oder Herzinfarkte anzusehen?
Prof. Dr. Martin: Bei Patienten, die ihre Krankheitsangst verdrängen und alles vermeiden, was mit Krankheit und Tod zu hat, kann das sinnvoll sein. Manche Patienten bekommen allerdings nach wenigen Minuten Panik, was die Angst nur noch verstärkt. Andere, die vor allem nach Sicherheit suchen, profitieren von Aufklärungsfilmen weniger.

jameda: Auch wenn in der Regel keine schwere Krankheit hinter den Beschwerden steckt, werden auch Hypochonder irgendwann krank und sterben. Was hilft gegen diese durchaus reale Angst? 
Prof. Dr. Martin: Zu lernen, dass es die perfekte Sicherheit nicht gibt, ist ein Prozess. Die Betroffenen müssen verstehen, dass sie mit ihren übermäßigen Sorgen im besten Fall nichts bewirken und im schlechtesten Fall ihre Lebensqualität ruinieren. Wenn sie ihre Sorgen aber annehmen und entkräften, rücken die Ängste langsam in den Hintergrund. Diese Erkenntnis aktiv einzuüben, ist auch Teil der Psychotherapie.

jameda: Im Internet finden Hypochonder mit wenigen Mausklicks passende Belege für ihren Krankheitsverdacht. Was können Angstpatienten tun, um der Sucht nach neuen Diagnosen zu begegnen und nicht in „Cyberchondrie“ zu verfallen?
Prof. Dr. Martin: Das Internet bietet an sich die Möglichkeit, sich sachlich zu informieren. Aber wenn sich die Betroffenen im Netz verlieren und sich zum Beispiel in Foren die Krankheitsgeschichten anderer durchlesen oder prüfen, welche Krankheit noch vorliegen könnte, wächst die Beunruhigung oft, anstatt nachzulassen. Wenn das der Fall ist, sollte man den Computer lieber ausschalten. Ansonsten könnten Patienten die Zeit begrenzen, die sie im Internet verbringen, oder bestimmte Seiten vermeiden, die sie immer wieder beunruhigen. Ich glaube aber, dass nur wenige Angstpatienten zwanghaft im Netz unterwegs sind.

jameda: Angehörige sind von den eingebildeten Krankheiten ihrer Liebsten oft genervt. Wie gehen sie mit Hypochondern am besten um, damit die Betroffenen ihre Angst überwinden können?
Prof. Dr. Martin: Zuerst einmal müssen die Angehörigen erkennen, dass es sich bei der Krankheitsangst um eine eigenständige Störung handelt. Immer wieder zu bestätigen, dass der Betroffene nicht krank ist, verstärkt das Bedürfnis nach Sicherheit nur. In vielen Fällen wird die Angst nur im Zuge einer Psychotherapie abnehmen. Darüber hinaus ist es wichtig, einerseits Rücksicht zu nehmen, andererseits zu Aktivität zu ermuntern – keine leichte Aufgabe.

jameda: Sorgenvolle Gedanken können zur Dauerbelastung werden, die sich wiederum negativ auf den Körper auswirkt. Könnte die Angst Erkrankungen, die um jeden Preis vermieden werden sollten, am Ende begünstigen?
Prof. Dr. Martin: Dafür gibt es keine Belege. Angst führt zwar zu Muskelanspannung, Herzklopfen und Schwindel, aber nicht zu den schweren Erkrankungen, die Patienten mit Hypochondrie in der Regel fürchten. Nur weil die Verdauungstätigkeit während einer Panikattacke eingeschränkt ist, entsteht noch lange kein Magengeschwür. Manche Patienten entwickeln allerdings weitere psychische Krankheiten wie etwa eine Depression.

jameda: Krankheitsangst ist heilbar. Welche Therapieform ist am wirkungsvollsten, um sie zu überwinden?
Prof. Dr. Martin: Angstlösende Medikamente empfehle ich nicht, da sie ein hohes Suchtpotential bergen. Die Verhaltenstherapie hat sich in gut kontrollierten Studien dagegen als nachhaltig wirksam erwiesen. Es kommt dabei zu einer deutlichen Verringerung der Angst und der körperlichen Beschwerden. Wichtig ist, dass die Betroffenen wieder Vertrauen in den eigenen Körper und in ihre eigenen Bewältigungsstrategien bekommen. Manchmal reichen nur ein paar Sitzungen aus, um die Angst zu überwinden. Während der Therapie lernen die Patienten, Auslösefaktoren zu identifizieren, den Automatismus der Angst zu verstehen, Befürchtungen zu relativieren und sich schwierigen Situationen zu stellen.

jameda: Vielen Dank für das Gespräch!

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