Artikel 16/01/2010

Professionelles Biofilm-Management in der Zahnarztpraxis

Dr. med. dent. Reiner Keilbach Zahnarzt
Dr. med. dent. Reiner Keilbach
Zahnarzt
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Cyanobakterien (auch Blaualgen genannt) waren die ersten Organismen, welche den Sauerstoff unserer Atmosphäre auf den heutigen für uns lebensnotwendigen Gehalt von 21% anreicherten. Ebenso unentbehrlich sind verschiedenste Bodenbakterien, welche die Nährstoffe aus abgestorbenen Pflanzen- und Tierresten neu heranwachsenden Pflanzen und Kleinstlebewesen zur Verfügung stellen. Was wären wir ohne Bakterien im Wasser – das Wasser würde mehr und mehr verschmutzt, irgendwann ungenießbar für den menschlichen Gebrauch.

Da wir wissen, dass es unzählige Arten gibt, die sich auf ihren jeweiligen Lebensraum (Habitat) spezialisiert haben, finden wir beim genauen Hinschauen Bakterien in allen unseren Lebenslagen wieder. Ein ganzes Kraftwerk hat z.B. jeder einzelne Mensch von uns in seinem Körper - genauer im Darm. Hier wird alles was wir uns schmecken lassen in für unseren Organismus notwendige Energie umgewandelt. Neben diesen Darmbakterien beherbergt unser Körper aber auch weitere für uns nützliche Bakterien auf unserer Haut - sie bilden einen Schutzschild gegen die noch kleineren Organismen namens Viren, indem sie kontinuierlich Enzyme ausscheiden und den bekannten Säureschutzmantel erneuern, um Viren keine Chance zu geben, über unsere Haut in unseren Kreislauf zu gelangen.

Bakterien leben aber nicht, wie lange vermutet, als Einzelgänger in der Natur, sondern sind in Form von Biofilmen organisiert. Ein Biofilm entsteht, wenn ein Bakterium auf eine Oberfläche trifft - oder auf ein anderes Bakterium. In einer solchen Situation beginnen sich die Mikroben zu vermehren und senden dabei biochemische Nachrichten aus. Erreicht die Anzahl der Bakterien und damit auch die Menge der Botenstoffe einen bestimmten Wert, dient das den Mikroorganismen als Startsignal: Sie beginnen mit der Produktion eines zähen Schleims aus Zucker, Eiweißen, Fettbausteinen und anderen Biomolekülen, der bis zu mehreren Millimetern dick werden kann und die gesamte Gemeinschaft umschließt. Dieser Schleim wird extrazelluläre Matrix genannt.

Neben Bakterien enthalten Biofilme gegebenenfalls auch Amöben, Geißeltierchen, und wenn Viren dabei keinerlei Rolle spielten, wäre dies erstaunlich, selbst wenn wir heute darüber vergleichsweise wenig wissen.
Charakteristisch für diese Organisationsform ist es, dass sich die einzelnen beteiligten Mikroorganismen miteinander verständigen, bestimmte Funktionen übernehmen wie ‘Arbeiterinnen’ und ‘Königinnen’ und widerstandsfähig werden gegen natürliche oberflächenaktive Stoffe und gegen die Immunabwehr des Körpers.

Auch problematische Zeiten lassen sich im Verband mit anderen leichter überstehen, etwa Hungerperioden, Stressphasen oder der Angriff von Schadstoffen. Durch die extrazelluläre Matrix können chemische Stoffe nicht eindringen, wodurch die Mikroorganismen durch Spüllösungen praktisch nicht angreifbar sind. Wollte man die Kleinstlebewesen im Biofilm etwa mit Antibiotika bekämpfen, so müsste man die Dosis gegenüber ungeschützt wachsenden Mikroorganismen bis zum Tausendfachen erhöhen - eine Dosis, die der Mensch nicht vertragen würde.

Man vergleicht den Aufbau eines Biofilms mit dem einer Stadt. Dieses Bild dient dazu, komplexe Zusammenhänge in diesen Parallelwelten zu verstehen und behandeln zu können.

Im Mund hilft der Biofilm – wie etwa im Darm – nicht nur, sondern kann auch Probleme verursachen. Und zwar genau dort, wo er nicht durch Zunge, Zahnseide, Zwischenraumbürstchen oder Zahnbürste mechanisch gestört wird.

Gewisse Bakterien im Biofilm können Zucker verwerten, verdauen und in weiterer Folge Säuren ausscheiden (wie etwa die besonders potente Milchsäure). Durch die extrazelluläre Matrix geschützt, verbleibt die Säure lange Zeit im Biofilm, und durch den tiefen pH-Wert (Säurewert, Wasserstoffionen-Konzentration) werden Mineralsalze aus der Zahnoberfläche herausgelöst, was zu Karies führt.

Stoffwechselprodukte der Mikroorganismen sowie Zerfallsprodukte aus der Zellwand derselben nach ihrem Absterben führen zu einer Entzündung des Zahnfleisches (Gingivitis) und - wenn diese unbehandelt bleibt - unter Umständen zu einer Parodontitis, mit Zerstörung des Zahnhalteapparates.

Der Speichel enthält alle Substanzen, aus denen auch der Zahn besteht, um nach Säureangriffen auf die Zahnhartsubstanzen die entstandenen Defekte wieder zu reparieren und die ursprüngliche Härte von Zahnschmelz und Co wiederherzustellen. Diese Stoffe können sich aber auch im Biofilm ablagern, der dadurch verkalkt, mineralisiert - es entsteht Zahnstein. Diese Auflagerung verändert wiederum die Zahnform und erschwert oder verhindert die effektive Entfernung des Biofilms.

Kein Patient ist in der Lage, seine Zahn- bzw. Wurzeloberfläche allein 100-prozentig sauber bzw. belagfrei halten - selbst nicht bei ‘perfekter häuslicher Mundhygiene’. Ihre Grenzen sind spätestens bei Zahnfleischtaschen von mehr als 2,5 bis 3 mm, wie sie typischerweise ab einem bestimmten Alter bei fast jedem vorliegen, erreicht.

Möglicherweise dringen die Borsten der Zahnbürste bei ungünstiger Zahnflächengestaltung auch in einzelne Fissuren auf den Kauflächen nicht hinein. Bei Implantaten gestaltet sich die Reinigung besonders schwierig. Sie ist praktisch nur auf den glatten Oberflächen möglich. Im Bereich der rauen Oberflächen bleiben zwanzig bis dreißig Prozent des Biofilms einfach immer übrig.

Die Zahnmedizin beginnt zu verstehen, dass wir es in der Mundhöhle nicht nur mit „Plaque“ oder Zahnbelag sondern mit einem Biofilm zu tun haben. Die Konsequenz kann daher nur regelmäßiges Biofilm-Management in der Zahnarztpraxis heißen. Konkret: Dreimonatliche Durchführung professioneller Zahnreinigungen und mannigfaltiger individueller Begleitmaßnahmen, um den Biofilm gründlich zu zerschlagen und in Unordnung zu bringen. Dies ist der Zeitraum, in dem sich an Zähnen und in Zahnfleischtaschen wieder krankmachender Biofilm nachbildet. Die Zeitintervalle können im Falle eines verminderten Parodontose- und Karies Risikos des einzelnen Patienten verlängert werden.

Die Erforschung der Biofilme steht erst am Anfang und liefert ständig neue, brandheiße Erkenntnisse. Man überlegt im Moment, ob man die „Bad Guys“ im Biofilm durch „Good Guys“ ersetzen kann. Also nicht antibiotische, sondern probiotische Therapie. Die meisten Bakterien sind nämlich nicht unsere Feinde und für unser Überleben äußerst wichtig.

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