Artikel 04/05/2009

Der Mensch ist ein Auslauf-Modell

Team jameda
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Liebe jameda-Community,
der erste Marathonläufer war gleich tot. Gerade noch konnte er den Athenern zurufen ‘Freut Euch, wir haben gesiegt’, dann brach er geschwächt von den 42 Kilometern zusammen. In den letzten 2000 Jahren haben sich die Trainingsmethoden verbessert. Aber auch die Übermittlungsmöglichkeiten für eilige Nachrichten. Die Botschaft vom Sieg bei Marathon hatte weniger als 140 Zeichen – eine SMS hätte genügt. Warum gehen in diesen Wochen wieder Tausende Läufer an den Marathon-Start, um gegen die Uhr, gegen die Vernunft und gegen die Erfindung des Rades zu demonstrieren? Was ist heute die Botschaft?

Der Mensch ist ein Auslauf-Modell

Die Antworten vermute ich in Körper, Seele und Missverständnissen. Körper zuerst: Allen die lieber ihr Auge über Gedrucktes als ihre Füße über Asphaltiertes bewegen, spricht der Sportmediziner Carsten Schlünsen aus der Seele: 'Marathon ist als Breitensport nicht gesund, am Montag nach dem Rennen sind die orthopädischen Praxen voll.“ Sie dürfen also entspannt weiter lesen, was sich Läufer alles antun. Und die enthusiastischen Pedestren.

Die Profis kommen vorbereitet, schon seit Tagen haben sie sich mit Kohlenhydraten aufgeladen, ihre Glykogenspeicher in der Leber sind zum Bersten gefüllt, ihre Flüssigkeitsein- und Ausfuhr balanciert wie auf einer Intensivstation. „Viel Wasser hilft viel“ kann das Aus bedeuten, manchmal für immer. Denn der pauschale Ratschlag „viel Trinken“ führt im Extremfall durch die Blutverdünnung zu Herzrhythmus- störungen und zum Tod in der Hyponatriämie. Klingt komisch, ist aber so: man kann sich auch mit Wasser zu Tode saufen. Dann doch lieber alle 5 Kilometer an den Streckenposten nachtanken. Wenn man so weit kommt. Spätestens ab Kilometer 15 ist der Körper vor allem auf eines getrimmt: Laufen, Laufen, Laufen.

Von den Bauchorganen wird Blut abgezogen, damit die Skelettmuskulatur immer besser durchblutet werden kann. Nach 20 Kilometern beginnt der Stoffwechsel des Amateurs mehr Fett zu verbrennen, weil der Kohlehydrat-Speicher langsam leer wird – eine Umstellung, die noch erhebliche Auswirkungen haben wird. Um die Wegmarke Halbmarathon geben die meisten Läufer auf, vor allem weil das Ende noch nicht absehbar ist.
„In meinem Blut werfen die Endorphine blasen“ singt Judith Holofernes von der Band „Wir sind Helden“ in grober Verkennung der medizinischen Grundlagen. Als Mutter sollte sie wissen, dass ein Platzen der Fruchtblase unter der Geburt Endorphine ausschüttet, um mit körpereigenem Rausch den Schmerz erträglich zu machen, aber auch mehr im Hirn als im Blut. Und weil Männer keine Kinder kriegen können, laufen sie Marathon. Und lange bevor Endorphine im Blut Blasen werfen, tut das die Haut an der Brustwarze. Was den Frauen der Sport-BH ist den sensiblen Männern das Pflaster über den Mamillen, damit diese sich nicht am Shirt aufreiben. Denn die Brustwarze braucht der Mann noch, um auch bei Kilometer 30 noch zu wissen, wo an seinem Körper vorne ist. Denn der härteste Teil beginnt just dann, wenn man die absolute Mehrheit eigentlich schon hat, auf den letzten 12 Kilometern. Erfahrene Läufer wissen: ‘Hier kommt der Mann mit dem Hammer.’

Denn die Energiereserven in Leber und Muskel sind jetzt verbraucht, die leicht zu rekrutierenden Lager der Pasta-Party sind verheizt. Jetzt geht es ans eingemachte, ans Fett. Der Mensch hat einen Hybrid-Antrieb, aber den Muskel mit Fett zu befeuern ist ähnlich mühsam wie von Super auf Diesel umzusteigen – es schmerzt in der Performance. Fett mobil zu machen und im nächsten Schritt daraus Mobilität zu gewinnen braucht viel mehr Sauerstoff – da pfeift man zwischenzeitlich aus dem letzten Loch. Es ist auch die Zeit der Muskelkrämpfe, die wohl nicht nur durch Wasser- und Magnesiummangel, sondern durch die Überlastung der Nervenbahnen ausgelöst werden. Marathon macht man ja auch nicht zum Spaß, oder?

Die Geburt von eigenen Kindern und der Marathon sind starke Glücksmomente. Hinterher. Währenddessen würde man das als Außenstehender nicht vermuten, allein schon vom Gesichtsausdruck, der nach 30 Stunden in den Wehen und bei Kilometer 30 verblüffende Ähnlichkeit aufweist. „Runners High“, der Laufrausch, ist ein Mythos, der viel bewegt hat. Ein ungeahntes Glücksgefühl nach 30 Kilometern wird einem versprochen. Das Fiese daran: man muss die 30 Kilometer auch am Stück laufen. Ich hab es mit Salamitaktik probiert – von Glücksrausch keine Spur. Aber welche Wirkung die Endorphine – nicht als Rausch – wohl aber als ‘Durchhalte-Hormone’ haben, beweisen die ganzen Überlastungsschäden der Hobby-Athleten. Und die temporäre Schmerzfreiheit der Profis. Ohne Betäubungsmittelrezept werden an Hirn und Rückenmark Substanzen ausgeschüttet, die dem Morphin ähneln. Legendär wurde der Fall einer Langstreckenläuferin, die beim Laufen einen sonst außerordentlich schmerzhaften Ermüdungsbruch des Schienbeins erlitt. Sie lief das Rennen aber bis zu Ende und suchte erst Stunden später, als die Endorphinwirkung nachließ, einen Arzt auf.

Die Mittelfußknochen und auch das Schienbein brechen in mikroskopisch kleinen Schritten zusammen, was besonders schwer zu diagnostizieren ist. Diese ‘Materialermüdung’ ist verständlich, denn durch Schwung und Hebelwirkung lastet ein Mehrfaches des Körpergewichtes auf den Knochen. Wer 1000 Meter läuft, belastet jedes Sprunggelenk in der Summe mit 50 Tonnen. Da ist ein Laster, der einem über den Fuß fährt Peanuts dagegen. (Auch die Methaphorik leidet unter der Langstrecke)

Die letzten Kilometer ziehen sich, Läufer berichten von einem drastischen Ermüdungsschub, die Beine werden langsamer, sie fühlen sich immer schlechter. Dann hilft nur der Spruch: „Es ist egal, wie oft du aufgibst, solange deine Beine weiterlaufen.“ Und irgendwann sind die Beine auf Autopilot und melden ans Großhirn „det läuft“ – worauf sich dieses mit Freude in einen mentalen Kurzurlaub verabschiedet und runterfährt.

Denn darum geht es – nicht um Achillessehne, die Fettverbrennung oder die Sekunden auf der Stoppuhr. Es geht um Nichts! Das Nichts im Kopf. Marathon ist Meditation für Leute, die nicht Stillsitzen können oder wollen. Uns ist der afrikanische Weg zur Seelenruhe durch Laufen wahrscheinlich auch näher als der asiatische. Und nicht nur, weil wir nackt lieber wie ein schwarzer Läufer aussehen würden als wie ein bleicher Buddha mit Bauchansatz. Laufen ist Meditation.
Denn wenn der Körper leidet, freut sich der Geist – der Körper läuft und man kommt zu sich, – man kommt ja zu nix sonst. Laufen und sich gleichzeitig Sorgen machen, geht schlecht. Auch Telefonieren ist unvorteilhaft, zu schnell denkt der Angerufene, man hätte sich verwählt. Wer laufend an etwas denken muss, geht am besten Laufen. Da hört das auf. „The best way to still your mind is to move your body” sagt die geniale Tanzlehrerin Gabrielle Roth. Wenn du zur Ruhe kommen willst, bewegt dich. Auspowern - körperlich anregend und seelisch abregend zugleich. Regionen, die die Laufmotorik steuern, werden stark durchblutet, durch andere Regionen wie den frontalen Kortex, mit dem Menschen planen und Probleme lösen, fließt weniger Blut. Kein Grübeln, keine To-Do-Liste außer: weiterlaufen!

Beim Sex stellt keiner den Sinn des Lebens in Frage. Genauso wenig wie beim Laufen. Vom Grundbedürfnis und der Hirnphysiologie sind die Leute, die sich mit anderen auf einem Parkplatz zum Laufen treffen, gar nicht so anders als die, die in ihren Autos bleiben. Hauptsache man verliert den Verstand auf eine Art, so dass man ihn später wieder findet. Das ist der Unterschied zu echten Drogen und Sucht. Wer öfter seine Fettreserven verbrennt, brennt seelisch weniger aus. Wobei auch gewarnt sei vor der kleinen Fraktion von Läufern, die in Richtung Magersucht und Selbsthass unterwegs sind. Die laufen nicht mit ihrem Körper, sondern gegen ihn.

Genug intellektuell distanziert: ich laufe nämlich gerne. Von Zeit zu Zeit, aber ohne Stoppuhr. Am liebsten in Hamburg um die Alster. Denn dort gibt es keine Abkürzung. Und deshalb laufe ich da automatisch die Runde auch zu Ende. Die Außenalster ist die Opferstätte für den inneren Schweinehund. Da wird er im Ganzen geschlachtet. In Runden. Am Stück und eben nicht in Scheiben.

Als Kind bewegen sich die meisten Menschen sehr gerne. Also wenn man schon Schulreform macht, dann am besten eine mit mehr Sport und Bewegung. Dann passt auch mehr in den Kopf. Wie der Harvard-Psychiater John Ratey nachweist, lernen Kinder viel mehr und nachhaltiger, wenn sie sich zwischen den Unterrichtsstunden auspowern können. Das Vorurteil, dass die Sportskanonen meistens nichts im Kopf haben, liegt womöglich daran, dass, wer viel Zeit mit Sport verbringt einfach keine mehr hat, die neugebildeten Hirnzellen mit Inhalt zu füttern. Ich hab es nie verstanden, wie Menschen ernsthaft über Kilometer im Auto fahren können, um dann in einem Fitnessstudio auf ein Laufband zu gehen. Auf einen Apparat, der dafür sorgt, jedes Fortkommen zu verhindern, während man sich die Seele aus dem Leib läuft. So absurd! Vor allem, wenn die Geräte auch noch vor einer Wand stehen, so dass es aus der Warte eines Unbeteiligten so aussieht, als würde der Betroffene (oder wie nennt man diese Leute) nichts sehnlicher erstreben, als direkt gegen die Wand zu laufen, indes der fahrbare Untergrund ihn daran hindert. Was wohl Außerirdische denken würden, wenn Sie aus Versehen in einem Fitnessstudio landen würden, den Kultstätten der Moderne? Es gibt inzwischen mehr Mitglieder in Sportstudios als in den großen Kirchen. Früher ging man sonntags Morgen in die Kirche, um über die Erlösung vom Leiden zu hören. Heute läuft man Marathon. Wenigstens an der frischen Luft. Zum Laufen braucht man keinen Kopf. Hat Störtebecker eindrücklich genug bewiesen. (Wenn auch nicht über 42 Kilometer.)

Wer öfter läuft, dem wachsen sogar neue Hirnzellen. Körperliches Training erzeugt nachweislich ein natürliches Antidepressivum, das „VGF-nerve growth factor inducible protein“ – also eine Art Dünger für den Kopfsalat. Wer läuft findet übrigens auch im Alter leichter nach Hause - VGF schützt vor Alzheimer und anderen Formen des mentalen Abbaus. Auf welchen Wegen Sport der Seele auf die Sprünge hilft, darüber streiten sich die Gelehrten noch: ob über die Erwärmung, die Endorphine, den Botenstoff Serotonin oder schlicht über das wachsende Selbstwertgefühl. Im schlimmsten Fall trifft alles zu! Fest steht: Sport ist antidepressiv wirksam. Selbstwirksam. Denn sobald ich mich bewege, hab ich das Gefühl: wenn ich will, kann ich etwas bewegen. Und wenn ich es selber bin. Depressive bewegen sich wenig. Dabei gibt es kein Medikament, das so unmittelbar die Stimmung heben kann, wie selber ins Schwitzen zu kommen. Und ich meine jetzt nicht die Sauna.

„Schwitzen ist, wenn Muskeln weinen“, meint der geschätzte Kabarettkollege Horst Evers. Wenn Muskeln schwitzen, lacht das Hirn!

Die VGF-Forscher wollen jetzt Medikamente entwickeln, die genau so stimmungsaufhellend sein sollen wie Bewegung. Das Fiese: Mäuse, die sich nicht bewegen, aber VGF bekommen sind auch besser drauf. Laufen als Tablette? Fitness als Infusion? ‘Mit der Identifizierung von VGF haben wir einen Mechanismus entdeckt, durch den körperliche Aktivität antidepressive Wirkungen erzeugt’, sagt Ronald Duman von der Yale University in einer der renommiertesten Fachzeitschriften „Nature“.

Nennen Sie mich altmodisch - ich glaube weiter, dass Bewegen in der Natur das Beste ist – egal was „Nature“ dazu sagt!

Ich bin dann mal weg. Der Mensch ist und bleibt ein Auslauf-Modell.

Das gesamte jameda-Team gratuliert Dr. Eckart von Hirschhausen zu zwei Goldenen Schallplatten für seine Hörbücher „Glücksbringer“ und „Die Leber wächst mit ihren Aufgaben“!

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