Artikel 27/08/2019

Erkenne Dich selbst: Erfolge, Dauer, Risiken & Nebenwirkungen der Psychotherapie

Georg Metz Facharzt für Psychosomatische Medizin & Psychotherapie
Georg Metz
Facharzt für Psychosomatische Medizin & Psychotherapie
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„Erkenne Dich selbst!“. Das stand am sagenumwobenen Apollontempel in Delphi.
Die Auflösung individueller Probleme durch die Auseinandersetzung mit der eigenen inneren Persönlichkeit ist auch heute noch von großer Bedeutung. Heute hilft die Psychotherapie bei diesem Prozess. Aber wie läuft sie eigentlich ab?

Psychotherapie ist ein äußerst umfangreiches Unterfangen, das nicht vollständig mit Worten zu beschreiben ist. Dieser Text ist der Versuch, etwas Transparenz in eine hochkomplexe Materie zu bringen.

Psychotherapie bei modernen Zivilisationskrankheiten

Gerade in Zeiten lokaler und globaler Probleme geraten Menschen in existenzielle Sinnkrisen und suchen ihren individuellen Platz in der Welt. Zahlreiche Wertesysteme sind ins Wanken geraten und sorgen für Unsicherheit. Tägliche Reizüberflutung durch offensive Medien und Internet erzeugen innere Unruhe, Anspannung und nervöse Erschöpfung.

Burn-out ist heute ein Massenphänomen. Somit ist es besonders heute notwendig, das eigene Selbst zu stärken und sich von negativen Einflüssen abzugrenzen. Nicht selten drängen auch existenzielle und spirituelle Fragen im Herzen.

Im Dschungel der Therapieverfahren

Kaum ein Begriff ist so überfrachtet von individuellen Meinungen, Phantasien, Missverständnissen und sogar Ressentiments wie die Psychotherapie. Gemeinhin wird sie sowohl über- als auch unterschätzt. Eher selten wird ihr der Platz zugewiesen, der ihr entspricht.

Es beginnt mit der Begriffsvielfalt:

  • Psychologische Psychotherapie
  • Psychiatrie
  • Ärztliche Psychotherapie
  • Systemische Psychotherapie
  • Psychoanalyse
  • Verhaltenstherapie
  • Psychologie

Hinzu kommen noch zahlreiche Therapien aus dem eher alternativen Spektrum, wie Gestalt- und Körpertherapie, Familienaufstellungen oder Bioenergetik. Und schließlich noch der Bereich der Beratung: Coaching, Personal-Training u.v.m. Wer findet sich hier noch zurecht?

Zunächst: Anerkannt von den Krankenkassen und den Ärztekammern sind nur die folgenden drei Klassiker: Tiefenpsychologie (auch Gesprächstherapie genannt), Psychoanalyse und Verhaltenstherapie.

Psychotherapeuten, die ihre Zulassung von den Kammern in einer dieser drei Disziplinen erhalten haben, können oft auf jahrzehntelange akademische Ausbildungen und Erfahrungen zurückgreifen.

Statistisch betrachtet vergehen Jahre, bis Menschen sich für eine Psychotherapie entscheiden. Solange werden eigene „Strategien“ bemüht. Dann beginnt die Suche nach dem richtigen Therapeuten.

Den richtigen Therapeuten finden

Empfohlen werden mehrere Probestunden bei verschiedenen Therapeuten, die in der Regel von den Kassen bezahlt werden. In der Probestunde sollte ein möglichst „konkreter Behandlungsauftrag“ formuliert und der therapeutische Verlauf besprochen werden. Klären Sie Fragen und Unsicherheiten.

Unbedingte Akzeptanz des Klienten, gleichschwebende Aufmerksamkeit und
Achtsamkeit sowie gegenseitiges Vertrauen (Ärztliche Schweigepflicht) sind bei der Therapie entscheidend. Dann können sich wohlwollende innere Räume öffnen und kreative Entfaltungsmöglichkeiten erschlossen werden.

Man weiß, dass der wohlwollende und achtsame Kontakt zwischen Therapeut und Klient wesentlich zur Heilung beiträgt. Seien Sie daher durchaus anspruchsvoll und achten Sie auf Ihre Intuition. Geben Sie auch dem Therapeuten die Möglichkeit, seine fachlichen Entscheidungen sorgsam auszuloten.

Die Therapie selbst und alles, was damit verbunden ist, sollte unbedingt freiwillig sein. Niemand darf zu etwas gedrängt werden, das ihm oder ihr nicht entspricht.

Klären Sie auch, ob Ihnen ein Therapeut oder eine Therapeutin angenehmer ist. Spüren sie nach, ob sie sich wohlfühlen und Vertrauen aufbauen können. Die Therapie beginnt sozusagen mit der Wahl des „richtigen Therapeuten“ und der Wahl der richtigen „Therapierichtung“.

Verhaltens- oder Gesprächstherapie oder doch besser Psychoanalyse?

Verhaltenstherapie ist eher zur pragmatischen Überwindung von Ängsten, Phobien, Zwängen, Panikattacken und problematischen Verhaltensmustern geeignet. Auch zahlreiche psychosomatische Erkrankungen sind eher mit Verhaltenstherapie zu „behandeln“. Eine Therapie-Stunde pro Woche reicht meist aus.

Bei der Psychoanalyse wartet oftmals die berühmte Couch auf Sie. Klassischerweise wird hier 2-3 Mal pro Woche im Liegen gearbeitet. Hier werden tiefe verborgene Muster durch freie Assoziation, Traumdeutung u.v.m. aufgespürt und gedeutet.

Die Gesprächstherapie steht zwischen den beiden oben aufgeführten Therapieverfahren. Sie arbeiten i.d.R. in einer Sitzung pro Woche an aktuellen und an biografischen Themen. Gesprächstherapie ist eher fokusorientiert.

Therapie braucht Zeit

Geduld und Zeit sind erforderlich, um die Hintergründe der aktuellen Symptome und ihre Geschichte zu ergründen. Nicht selten spielen auch familiäre Muster, die unter Umständen von Generation zu Generation weitergegeben wurden, eine wichtige Rolle (systemischer Ansatz).

Die den Konflikten zugrunde liegenden, tief sitzenden Muster können in einem längeren Prozess angeschaut, bearbeitet und schließlich „gemildert“ oder besser gesagt „integriert“ werden. Danach kann der Klient positive Gegenerfahrungen und neue Wege erschließen.

Das geht in der Regel nicht im Schnellverfahren, wie es manchmal mit Begriffen wie „Programmlöschung“, „Neu-Programmierung“ oder „Hypnose“ angeboten wird. So einfach geht es leider nicht, da die menschliche Psyche äußerst komplex und hochgradig individuell ist. Mit schnellen, reduzierenden Techniken ist dem meist nicht beizukommen.

Was also kann Psychotherapie leisten?

Zunächst einmal bedeutet der Begriff sinngemäß „Wegbegleitung auf Zeit“. Ein neutraler, fachlich kompetenter Therapeut nimmt sich Zeit, den Klienten auf seinem Weg zu begleiten.

Praktisch jeder Patient/Klient hat ein Defizit an wohlwollender Aufmerksamkeit, Akzeptanz und Unterstützung hinsichtlich seiner Lebensfragen. Fast immer ist das Selbst, die Liebe zu sich selbst und dem Leben gegenüber zumindest teilweise gestört. Hier ist es die Aufgabe des Therapeuten, behutsam, achtsam und mitunter ausgleichend zu sein.

Keinesfalls sitzt dort ein Meister, der schnelle Lösungen parat hält oder sich anmaßen darf, das Schicksal des Klienten zu bestimmen. Man muss eher vor Therapeuten warnen, die alles besser wissen und mit „Rat-Schlägen“ und Lösungen schnell zur Hand sind.

Eine gute Therapie zeichnet sich durch eine „prozessorientierte Arbeit“ aus und erschließt das Potential des Klienten gemeinsam und schrittweise. Insofern unterscheidet sich die Psychotherapie von anderen „Behandlungen“. Denn die engagierte Mitarbeit des Klienten ist wichtig. Nur wer bereit ist, sich zu öffnen und über sein Innenleben berichtet kann, wird letztlich von der Therapie profitieren.

Es wird intensiv, doch behutsam gearbeitet. Der Klient behält die Regie über alle seine Entwicklungsschritte. Er oder sie bestimmt das Tempo und kann alle therapeutischen Angebote jederzeit annehmen oder ablehnen. Sein aktuelles und zukünftiges Wohlergehen steht an erster Stelle. Überforderung und Manipulation lassen sich durch Achtsamkeit vermeiden. Psychotherapie ist immer auch Hilfe zur Selbsthilfe.

Um dem oft schwer beschreibbaren tieferen Konflikten der Seele näher zu kommen, kann es sinnvoll sein, vorsprachliche Ebenen, wie Träume, (Tages-)Phantasien, (selbstgemalte) Bilder, Texte oder Familien-Aufstellungen einzubeziehen. Dabei können tiefe Erkenntnisse gewonnen werden, die mit rein sprachlichem Ausdruck unerkannt bleiben würden.

Risiken und Nebenwirkungen

Eine gute Therapie kann die Sicht auf Ihr Leben kreativ erweitern. Vielleicht werden „alte Muster“ infrage gestellt oder der Bezug zu Mitmenschen und zur Arbeitswelt verändert sich. Das kann durchaus irritierend sein, weil Sie Neuland betreten.

Doch ist Ihr therapeutischer Entwicklungsweg immer dann richtig, wenn er Ihrem inneren Selbst entspricht und nicht fremdbestimmt wird?

Unser Zeitalter ist schnelllebig. Eine gute Therapie ist es nicht. Sie nimmt in Anspruch, „Zeit zu haben“ und sich selbst Zeit, Raum und Aufmerksamkeit zu schenken. Diese ruhige Grundhaltung beinhaltet mitunter schon einen Teil der Lösung.

Auch im 21. Jahrhundert fällt manchem der Weg in die Therapie schwer. Vielleicht sind es Vorbehalte oder Scham, vielleicht aufsteigende Ängste, ja Ressentiments. In Wirklichkeit kann eine Therapie jedoch echte Durchbrüche zu neuen Ufern vorbereiten. Es mag sogar ein Privileg sein, das eigene Leben, die eigene Geschichte neu zu betrachten und die Zukunft kraftvoller und freudiger zu gestalten.

Es darf sogar Freude bereiten, sich selbst und seinen tiefer liegenden Seelenlandschaften zu begegnen. Und nicht zuletzt: Deutschland gehört zu den wenigen Ländern, in denen eine Psychotherapie von der Krankenkasse bezahlt wird. Ein schmales Budget ist also kein Hinderungsgrund.

Erfolgsaussichten und Dauer der Therapie

Einem Drittel der Klienten geht es dauerhaft besser, einem Drittel geht es teilweise besser und ein Drittel profitiert nur wenig von der Therapie. Diese Zahlen entsprechen in etwa auch den medizinischen Behandlungserfolgen einer Arztpraxis.

Nicht immer ist Psychotherapie das Mittel der Wahl. Profitiert der Klient nicht davon, sollte er nach Alternativen suchen.

Frühere Therapien dauerten oft viele Jahre. Heute weiß man, dass zu lange Therapien zu Unselbständigkeit, mitunter sogar zu Abhängigkeit führen können. Therapie ist ‘Wegbegleitung auf Zeit’.

Was Sie zur Unterstützung der Therapie tun können

Die Therapie selbst kann sinnvollerweise durch Körpertherapie wie Yoga, Qi Gong, Tai Chi, die Alexandertechnik oder Tanz ergänzt werden. Auch Selbsthilfegruppen, Mal- oder Musik-Therapiegruppen, ausreichende Bewegung und biologische und frische Ernährung sind ebenfalls empfehlenswert. Joggen, Tanzen und Singen sind sehr gute und vor allem natürliche Anti-Depressiva.

Nur ein ganzheitlicher Ansatz, der Geist, Seele und Körper einschließt, kann auf Dauer zu einem umfassenden Wohlgefühl führen. Lebensfreude, Liebe zum Leben und die Kraft, das eigene Leben unbeschwert zu meistern, sind die eigentlichen Ziele der Therapie.

Beziehungs-, Arbeits-, Genuss- und Liebesfähigkeit waren die Ziele, die Siegmund Freud definierte. C.G. Jung und andere erweitern diese Ziele noch durch Spiritualität und Sinnfindung.

Wann ist die ambulante Therapie nicht genug?

Patienten mit akuten Suchtproblemen, Psychosen, Schizophrenien, Essstörungen und klinischen Depressionen sollten vor Beginn einer ambulanten Psychotherapie zunächst eine stationäre Therapie machen.

Patienten mit Alkohol- oder Drogenproblemen und deren Angehörige sollten – zusätzlich zur Psychotherapie – regelmäßig eine Selbsthilfegruppe aufsuchen. Dies gilt auch für zahlreiche Leiden, die psychosomatisch mitbedingt sind.

Bedauerlicherweise muss man häufig feststellen, dass sich viele Betroffene gar nicht bewusst sind, wie problematisch ihr Umgang mit Alkohol und Drogen ist. Es wäre gut, wenn eine gesellschaftliche Diskussion darüber in Gang käme, ähnlich der Diskussion über das Rauchverbot der letzten Jahre.

Während der Therapie ist jeglicher Konsum von Drogen, Alkohol und nicht sinnvoller Medikamente zu vermeiden. Bitte beachten Sie, dass Alkohol, Tabak und Drogen schwere Nervengifte sind und sich negativ auf die körperliche und geistige Entwicklung auswirken. Sie sind somit kontraproduktiv für den therapeutischen Prozess.

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