Artikel 13/10/2016

Was wir fühlen, wissen wir: Über den Unterschied zwischen Wissen und Glauben

Dipl.-Psych. Rainer Poulet Heilpraktiker für Psychotherapie
Dipl.-Psych. Rainer Poulet
Heilpraktiker für Psychotherapie
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„Glauben ist nicht Wissen“ - das ist eine beliebte Redensart. Wir alle wissen, dass es zwischen diesen beiden kognitiven Fähigkeiten einen Unterschied gibt. Aber worin liegt dieser Unterschied genau?

Zum Wissen gehört Gewissheit. Ein Kleinkind, das seine Mutter vermisst, mag annehmen, dass sie sich im Nebenzimmer aufhält. Man sagt ihm vielleicht, dass es sich beruhigen möge, weil die Mama ja ganz in der Nähe ist. Aber das Kind muss wissen, dass die Mama da ist - die Zusicherung allein reicht nicht.

Mit der Unsicherheit leben lernen

Im Laufe der Zeit wird das Kind lernen, mit Vermutungen, Zusicherungen und Annahmen auszukommen, das heißt zu glauben und den Anspruch auf Wissen zurückzustellen. Aber aufgeben können wir diesen Anspruch nicht, selbst wenn wir wollten.

Wir wollen mit eigenen Augen sehen - so wie das Kind die Mutter sehen muss, damit es sich beruhigen kann. Es braucht für solch wichtige Dinge die höchstmögliche Gewissheit. Das wird sein Leben lang so bleiben, auch wenn das Kind lernt, sich aus praktischen Gründen nach außen hin mit Annahmen zufriedenzugeben und vieles einfach nur glaubt, um z. B. das Zusammenleben zu erleichtern.

Dagegen ist nichts einzuwenden, aber es bleibt etwas Besonderes, wirklich zu wissen.

Was wir fühlen, wissen wir

Also, was wissen wir wirklich? Um diese Frage zu klären, müssen wir auf den Unterschied zwischen Denken und Fühlen zurückgreifen.

Vielleicht sind wir gewohnt, dem Denken ein gewisses Maß an Klarheit und Nachvollziehbarkeit zuzuschreiben, während dem Fühlen der Ruch der Ungenauigkeit und Subjektivität anhaftet. Das ist berechtigt, denn es gibt kaum etwas, das so subjektiv ist wie das Fühlen.

Was ich fühle, weiß nur ich - selbst wenn ich es kommunizieren möchte. Was ich denke, kann ich formulieren, mitteilen, verleugnen, vergessen, ausgestalten, glauben oder ablehnen. Ich kann denken, dass ich genug gegessen habe. Aber dass ich noch Hunger habe, weiß ich, auch wenn ich dem Gefühl keinen Raum gebe. Außer mir kann es niemand wissen.

Was wir fühlen, ist unser Geheimnis.

  • Ich habe genug geschlafen, aber ich bin noch müde.
  • Die Wohnung ist geheizt, aber ich friere trotzdem.
  • Ich sollte andere Menschen lieben und respektieren, aber ich hasse und verachte sie.
  • Ich sollte dankbar sein, aber ich bin enttäuscht.

Solche Widersprüche gehören zu unserem Alltag - und als erwachsene Menschen sollten wir damit umgehen können.

Wenn sich Gedanken und Gefühle widersprechen

Wir sind fähig, etwas völlig Anderes zu fühlen als zu denken.

Wir werden früh daran gewöhnt, unsere individuellen Gefühle im Zweifelsfall für weniger wichtig zu halten als die Fülle von sozialen Erwartungen, mit denen wir zunehmend in unserer Entwicklung konfrontiert sind. Das lernen wir vor allem im Schulalter. Dagegen ist Lesen und Schreiben ein Kinderspiel.

Wir lernen auch, zu glauben, dass es so etwas wie „richtig“ und „falsch“ gibt, und dass Erwachsene uns diesen Unterschied beibringen müssen. Im Konfliktfall sollen wir dem eigenen Gefühl misstrauen und dem Kollektiv folgen.

Allerdings: Was wir fühlen, das wissen nur wir. Ich soll beispielsweise glauben, dass ich ein Sünder bin, aber ich weiß, dass ich Schuldgefühle habe. Ich glaube, dass mein Partner treu ist, aber ich weiß, dass ich eifersüchtig bin.

Wenn der Einzelne nicht fühlt, was alle glauben

Unsere Erziehung kann bewirken, dass wir durch diesen scheinbaren Konflikt Selbstzweifel entwickeln: Alle andere haben recht, aber wir irren uns natürlich. Da draußen sind 7 Milliarden Menschen, und wir sind nur ein Einzelner.

Wie können wir es wagen, mit unserem Wissen über das, was wir innerlich fühlen, gegen den großen Glauben, dem scheinbar alle anderen zustimmen, bestehen zu wollen!

Aber im Verlauf unserer Entwicklung werden wir erkennen, dass die Einigkeit der sozialen Umgebung nur oberflächlich ist. Dass jeder Mensch mit diesem Konflikt konfrontiert ist und dass jeder Einzelne einen Weg zwischen diesen beiden Polen finden muss.

Gib der Gesellschaft, was sie verlangt, aber gib dir selbst, was du brauchst. Lege, wenn nötig, öffentliche Glaubensbekenntnisse ab, aber zweifle nicht an deinen Gefühlen.

Gefühle erkennen und vom Glauben anderer abgrenzen

Es leuchtet ein, dass diese Kunst schwierig ist, aber dieses dynamische Gleichgewicht zwischen den Ansprüchen der Sozietät und den eigenen Bedürfnissen fordert jeden Tag aufs Neue unsere Aufmerksamkeit.

Man kann es nicht im Vornherein festlegen, so wie ein Seiltänzer nicht vorher wissen kann, welche Ausgleichsbewegungen er vollführen muss, um nicht abzustürzen. Wenn er einem festen Bewegungsablauf folgte, würde das nur seinen Absturz beschleunigen. Vielmehr muss er durch Übung lernen, in jedem Moment jede Abweichung vom Gleichgewicht zu fühlen und zu korrigieren. Wissen kann er das gar nicht.

So lernen wir auch in der kognitiven Therapie, unsere Gefühle zu erkennen, richtig einzuordnen und von dem, was in der Gesellschaft „Wissen“ genannt wird, aber häufig nur geglaubt werden muss, zu unterscheiden. Dann können wir unseren Weg mit mehr Freude und Zufriedenheit weitergehen.

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