Artikel 26/10/2022

Post-Covid-Syndrom: Diagnostik- und Therapie-Optionen

Dr. med. Angelika Hellstern Anästhesiologe, Spezieller Schmerztherapeut, Palliativmediziner
Dr. med. Angelika Hellstern
Anästhesiologe, Spezieller Schmerztherapeut, Palliativmediziner
post-covid-syndrom-diagnostik-und-therapie-optionen

Im mittlerweile dritten Jahr der Pandemie sind wir nach wie vor mit einer steigenden Anzahl von Patienten konfrontiert, die sich nach einer durchgemachten Covid-19-Infektion nicht komplett erholt haben und unter teils erheblichen Beschwerden und Einschränkungen leiden.

Dabei sind Art und Ausprägung der möglichen Symptome sehr vielfältig und individuell.

Die Palette umfasst:

  • Fatigue,
  • Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen,
  • deutlich reduzierte körperliche Leistungsfähigkeit,
  • Herz-Kreislauf-Probleme,
  • Atembeschwerden,
  • Schlafstörungen,
  • verschiedene Arten von Schmerzen,
  • Herzrasen,
  • Panikattacken,
  • Störung der Wärmeregulation,
  • Fieberschübe,
  • Halsschmerzen,
  • Unverträglichkeiten,
  • Hormonstörungen,
  • Haarausfall und vieles andere mehr.

Die mittlerweile zahlreicher vertretenen Post-Covid-Ambulanzen haben Wartezeiten von etlichen Monaten, die ärztliche Therapie-Leitlinie empfiehlt in erster Linie ein symptomatisches Vorgehen. Betroffene fühlen sich hilflos und alleingelassen, Ärzte und Therapeuten gelangen an ihre Grenzen.

Welche Möglichkeiten bietet die funktionelle Medizin?

Wichtig: Grundsätzlich sollte jeder betroffene Patient zunächst kardiologisch, pulmologisch und neurologisch fachärztlich abgeklärt werden. In Einzelfällen ist auch eine rheumatologische Vorstellung erforderlich. Sollten sich hier keine entsprechenden Therapie-Ansätze ergeben, kann es sinnvoll sein, weitere Diagnostik zu betreiben.

Mittlerweile sind einige zugrundeliegende Mechanismen näher beleuchtet und etwas klarer geworden. So können bei Patienten mit Post-Covid-Syndrom unter anderem folgende Problematiken vorliegen (einzeln oder auch variabel kombiniert):

Vegetatives Nervensystem (Sympathikus/ Parasympathikus)

Wie bei allen chronischen Krankheitszuständen liegt auch hier fast immer eine deutlich reduzierte Regulationsfähigkeit des vegetativen Nervensystems vor. Das vegetative oder auch autonome Nervensystem steuert alle Vorgänge im Körper, auf die wir nicht selbst direkt Einfluss nehmen können. Darunter zum Beispiel die Kreislaufregulation, Herzschlag, Eng- oder Weitstellung der Blutgefäße, Schwitzen, Verdauung, Zucker-Auf- und Abbau.

Es gibt 2 Zustände: Im Stress-Modus sorgt das sympathische Nervensystem dafür, dass wir in einer Notsituation kämpfen oder flüchten können. Dafür wird unsere Aufmerksamkeit geschärft, die Muskeln werden vorgespannt, der Kreislauf wird hochgefahren und Zucker wird bereitgestellt.

Das geht auf Kosten vieler anderer Körperfunktionen, die im Akutfall vorübergehend vernachlässigt werden können (z. B. Verdauungssystem, Hormonsystem). Ist die Gefahr vorbei, kommt der Parasympathikus zum Zug, wir erholen uns, verdauen unsere Nahrung, Regenerationsvorgänge werden eingeleitet.

Heutzutage ist bei sehr vielen Menschen diese Regulationsfähigkeit erschöpft, sie befinden sich fast dauerhaft im Stresszustand mit allen ungünstigen Folgen. Diese Fähigkeit zur Regulation kann durch eine Herzratenanalyse („HRV-Messung“, ähnlich einer EKG-Untersuchung) erfasst werden. Es gibt zahlreiche Möglichkeiten, den parasympathischen Anteil zu unterstützen und zu trainieren. Eine gute Funktion des Parasympathikus ist für eine nachhaltige Heilung unabdingbar und wird leider oft viel zu wenig beachtet.

Gestörte Energiegewinnung in den Mitochondrien

In nahezu allen Körperzellen wird in den Mitochondrien ständig in großen Mengen ATP gebildet, unsere universelle „Energie-Währung“. Dieser komplexe Vorgang kann leicht gestört werden, und es kommt zu einem Energiemangel auf zellulärer Ebene im ganzen Körper mit entsprechend vielschichtigen Konsequenzen.

Sowohl der ATP-Gehalt als auch die Vitalität der Mitochondrien kann im Labor erfasst werden. Bei Hinweisen auf erworbene Störungen der Energiegewinnung kann eine genauere Messung helfen, die Ursachen aufzudecken.

Therapeutisch stehen hier vor allem eine optimale Versorgung aller notwendigen Mikronährstoffe, die Elimination von verschiedenen Toxinen und chronischen Erregern sowie Kalorienrestriktion im Fokus. Einige Therapeuten berichten über sehr gute Ergebnisse durch IHHT (Hypoxie-Training). Hier können gezielten stark geschädigte Mitochondrien eliminiert werden, damit dann neue, gesunde Mitochondrien nachgebildet werden können.

Diese potente Therapie kann jedoch auch zu einer Verschlechterung führen und gehört daher in die Hände eines erfahrenen Therapeuten. Gerade für Patienten, die unter sehr ausgeprägter Erschöpfung leiden, ist ein gutes Energie-Management („Pacing“) sehr wichtig. Denn geringfügige Überlastungen können dazu führen, dass sich ihr Zustand danach tagelang erheblich verschlechtert. Dieses Phänomen wird als PEM (Post Exertional Malaise) bezeichnet und ist wahrscheinlich einer massiv gestörten Mitochondrienfunktion geschuldet.

Störungen des Hormonsystems

Mehrere Arbeitsgruppen konnten bei Patienten mit Post-Covid-Syndrom mittlerweile erniedrigte Cortisolspiegel nachweisen. Cortisol ist ein wichtiger Vertreter der sogenannten Steroidhormone. Sie werden – übrigens in den Mitochondrien – aus Cholesterin hergestellt und regulieren zahlreiche lebenswichtige Funktionen im Körper. Darunter den Mineralien- und Flüssigkeitshaushalt, die Bereitstellung von Zucker als Energiebaustein, verschiedene immunologische Prozesse, Wundheilung, die Fähigkeit, mit Stress umzugehen, den Schlaf-Wach-Rhythmus, Muskelaufbau und sämtliche Sexualfunktionen (Progesteron, Östrogene und Testosteron gehören ebenfalls zu den Steroidhormonen).

Über Regelkreisläufe besteht auch eine enge Verbindung zur Schilddrüse. Ein Ungleichgewicht im Bereich der Steroide kann entsprechend vielfältige Symptome und Störungen verursachen. Nach meiner persönlichen Erfahrung leiden die betroffenen Patienten vor allem sehr häufig unter Pregnenolon- und DHEA-Mangel. Durch bioidente Hormone kann hier im Falle eines deutlichen Mangels eine sanfte Unterstützung erfolgen.

Immunsystem

Verschiedene Störungen im Bereich des Immunsystems konnten bei Betroffenen nachgewiesen werden. So scheint bei einem Teil der Patienten eine überschießende Entzündungsreaktion fortzubestehen, proinflammatorische Zytokine sind – ebenso wie Histamin – häufig erhöht.

Manche Patienten entwickeln Nahrungsmittelunverträglichkeiten und allergieähnliche Symptome. Es kommt auch zu Autoimmun-Reaktionen mit Bildung verschiedenster Auto-Antikörper. Unter den Zielstrukturen sind nicht selten verschiedene Rezeptoren des vegetativen Nervensystems zu finden. Das ist eine mögliche Ursache für die Entstehung eines POTS (Posturales Orthostatisches Tachykardie-Syndrom).

Bei anderen Patienten wiederum scheint das Immunsystem nachhaltig geschwächt zu sein, so dass es zur Reaktivierung von beispielsweise verschiedenen Herpesviren kommt, darunter auch Epstein-Barr-Virus. Gelingt es, hier einen tieferen Einblick in die immunologischen Vorgänge zu bekommen, kann man gezielt versuchen, modulierend einzugreifen. Dafür stehen unter anderem verschiedenste pflanzliche Wirkstoffe zur Auswahl. Viele Patienten mit Störungen des Immunsystems scheinen auch gut von einer Therapie mit LDN (Low Dose Naltrexon) zu profitieren.

Gerinnung/Gefäß-System

Die Bildung von Mikro- oder auch Makrogerinnseln scheint eine sehr große Rolle zu spielen. Als Folge kommt es zu Störungen der Durchblutung und der Sauerstoffversorgung im Gewebe. Entzündungsprozesse in den Blutgefäßen sowie die oben bereits erwähnten Regulationsstörungen des vegetativen Nervensystems verstärken diesen Effekt noch zusätzlich.

Verschiedene Optionen können hier therapeutisch eingesetzt werden, darunter pflanzliche Wirkstoffe, gerinnungswirksame Medikamente, Sauerstoff- oder Ozontherapien, physikalische Verfahren wie zum Beispiel Magnetfeldtherapie, hyperbare Sauerstoff-Therapie bis hin zur H.E.L.P.-Apherese.

Fazit

Das Post-Covid-Syndrom hat viele Gesichter. Je besser es gelingt, die individuellen Beschwerden herauszuarbeiten und die zugrundeliegenden Störungen zu erfassen, je eher können wir den betroffenen Menschen wieder zurück ins Leben helfen.

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