
Warum Eltern ein zentraler Teil der Behandlung sind – und was es noch braucht.
Wenn ein Kind aufhört zu essen, verändert sich auch das familiäre Gefüge: Mahlzeiten werden zu Konfliktherden. Die Atmosphäre ist von Angst und Überforderung geprägt. Jede:r in diesem System ist von der Erkrankung auf seine Art und Weise betroffen. Leider werden Eltern bei der derzeitigen Behandlung nicht immer gut eingebunden und unterstützt. Gerade bei der Rückkehr nach einem Klinikaufenthalt und Wiedereingliederung in den Familienalltag ruckelt es häufig.
An diesem Punkt setzt die Familienbasierte Therapie (FBT) an – ein Behandlungsansatz, der betroffene Familien ins „Zentrum der Heilung“ rückt. Doch wie sieht das konkret aus? Und wie ist die Versorgungslage in Deutschland?
Ursprünglich wurde die Familienbasierte Therapie an der Maudsley Clinic in London entwickelt und durch Forschungsgruppen von James Lock (Stanford) und Daniel Le Grange (Chicago) weiterentwickelt. Dort gilt sie als goldener Standard. In Deutschland wurde sie u. a. durch die Forschungsgruppen in Aachen (Uniklinik RWTH) und Berlin (Charité) wissenschaftlich erforscht und angepasst.
Eltern werden dabei aktiv in die Behandlung eingebunden. In der ersten Phase übernehmen sie, begleitet durch ein interdisziplinäres Team aus Psychotherapeut:innen, Ärzt:innen und Ernährungsfachkräften, die Verantwortung für die Ernährung ihres Kindes. Sobald eine ausreichende Gewichtszunahme erreicht wurde, geht einer zweiten Phase die Verantwortung Stück für Stück zurück in die Hände des Jugendlichen. In der dritten Phase sind Stärkung der Autonomie, Rückkehr in altersgerechte Entwicklung, sowie Beziehungsarbeit die Hauptthemen.
Besonders bei Jugendlichen zwischen ca. 10 und 18 Jahren mit kurzer Krankheitsdauer ist FBT ein hochwirksamer Ansatz. Die Remissionsraten liegen international bei über 70 % – ein deutlich besserer Wert als bei vielen anderen Therapieformen. Auch in der deutschen Aachener Studie (Herpertz-Dahlmann et al.) zeigte sich, dass Familien, die FBT-basiert begleitet wurden, seltener Rückfälle zeigten. Bei älteren Jugendlichen oder sehr chronischen Verläufen kann eine modifizierte Form notwendig sein.
Ein zentraler Aspekt der FBT ist der Umgang mit schwierigen Gesprächen, insbesondere rund um das Thema Essen. Viele Eltern fühlen sich überfordert: „Wie kann ich Grenzen setzen, ohne in einen Streit zu eskalieren?“ oder „Wie bleibe ich ruhig, wenn mein Kind schreit, weint oder schweigt?“
Hier bietet Eva Musby, selbst Mutter eines betroffenen Kindes und Autorin von “Anorexia and Other Eating Disorders – How to Help Your Child Eat Well and Be Well”, eine wertvolle Ergänzung: Sie integriert die Prinzipien der Gewaltfreien Kommunikation (GFK) nach Marshall B. Rosenberg in die FBT. Diese Art des Dialogs hilft Eltern dabei,
Musbys Ansatz ermöglicht es, Konflikte nicht zu vermeiden, sondern in sichere, von Respekt getragene Begegnungen zu verwandeln. Sie sagt: „Du musst deinem Kind helfen, gegen die Essstörung zu kämpfen – und gleichzeitig dafür sorgen, dass es sich von dir gehalten fühlt.“
In der Praxis bedeutet das: Statt Drohungen oder Schuldgefühle einzusetzen, schaffen Eltern eine Atmosphäre, in der das Kind spürt: „Ich werde gesehen – auch wenn ich nein sage.“ Das stärkt Bindung und Motivation, und es reduziert die Wahrscheinlichkeit einer Eskalation rund ums Essen.
Trotz der positiven Evidenz ist FBT in Deutschland noch nicht flächendeckend verfügbar. Zwar bieten einige Kliniken und Praxen in größeren Städten (z. B. Berlin, Aachen, Freiburg, München) familienbasierte Angebote an, doch im ambulanten Bereich ist der Zugang oft schwierig.
Damit mehr betroffene Familien in Deutschland von der FBT profitieren können, braucht es eine strukturelle Integration in die Regelversorgung. Aktuell ist FBT noch nicht als Standardverfahren durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) anerkannt, was eine systematische Vergütung erschwert. Nötig wären:
Familienbasierte Therapie bei Anorexie verändert nicht nur das Essverhalten – sie stärkt Familien in ihrer Rolle, gibt Sicherheit zurück und eröffnet neue Wege in der Beziehung zwischen Eltern und Kind. Die Gewaltfreie Kommunikation bietet dabei eine Brücke zwischen Ernährung und Beziehung. Es ist an der Zeit, diesen ganzheitlichen Ansatz flächendeckend verfügbar zu machen.
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