Artikel 26/02/2012

Harninkontinenz bei der Frau: ein vielschichtiges Problem

Team jameda
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Jede dritte Frau in Europa leidet unter ungewolltem Urinverlust (= Harninkontinenz). Hauptursache für dieses quälende Problem ist ein Erschlaffen der Beckenbodenmuskulatur und der Haltebänder durch Geburten, Alter oder Operationen. Mit dem Beginn der Wechseljahre schwächt eine nachlassende Hormonproduktion zusätzlich den Halteapparat des Beckenbodens.
Unkontrollierter Urinabgang kann aber auch durch Erkrankungen wie Diabetes, Krebs, Schlaganfall, Parkinson oder Multiple Sklerose begründet sein. Daher sollte das Problem umgehend nach Auftreten mit dem Hausarzt, Internisten oder Gynäkologen besprochen werden.

Viele Frauen scheuen sich, zum Arzt zu gehen. Es ist ihnen peinlich, darüber zu reden oder sie halten die Blasenprobleme für einen unabwendbaren Teil des Älterwerdens. Wieder andere haben in ihrem Bekanntenkreis erlebt, dass sich deren Probleme nach einer Operation eher noch verschlechtert haben.
Seit der ersten Inkontinenz-Operation im Jahre 1852 (Sims JM (1852) On the Treatment of Vesico-Vaginal Fistula Am J Med Sci 23; 59-82) sind mehr als 150 Operations-Variationen beschrieben worden. Die meisten dieser Operationen sind wieder verlassen worden, da sie nicht den gewünschten Erfolg gebracht haben.

Dass die bisherigen Behandlungsergebnisse oft nicht überzeugen konnten, hat im Wesentlichen zwei Gründe:

1. Den Ärzten fehlte bisher das Verständnis dafür, wie der Beckenboden funktioniert.

2. Die operativen Korrekturversuche waren unphysiologisch und konnten daher die Funktion nicht gezielt wiederherstellen.

Diese Situation hat sich verändert. Es gibt heute neue Erkenntnisse, die erklären, wie der Beckenboden arbeitet. Daraus haben sich sehr erfolgreiche und wenig belastende Behandlungsmethoden ergeben, die auch im hohen Alter durchgeführt werden können.

Wie funktioniert der Beckenboden?

Der Beckenboden arbeitet wie ein Trampolin, das aus einer Membran (Beckenbodenmuskeln) und Federn (Bändern) besteht. Die Federn sind vorne, in der Mitte und hinten am Beckenknochen befestigt. Auf der Trampolinmembran ruht die Harnblase, die einem elastischen Gummiballon gleicht. Füllt sich die Harnblase mit Flüssigkeit, dann werden die Trampolinmembran und Federn zunehmend nach unten gedrückt.
Der Bereich der Blase, der von der Trampolinmembran getragen wird (Blasenboden), enthält Nervenendigungen, die durch Dehnung bei zunehmender Blasenfüllung gereizt werden. Die Signale werden dem Gehirn übermittelt, das auf diese Weise über die Füllung der Blase informiert wird. Ab einem bestimmten Füllungszustand gibt das Gehirn den Befehl zum Blaseentleeren. Ist es für die Patientin in dem Moment nicht möglich, die Blase zu entleeren, zieht die Beckenbodenmuskulatur das Trampolin stramm. Der Blasenboden wird angehoben. Die Dehnung und damit die Reizung der Nervenendigungen nehmen ab und die Patientin hat nicht mehr den Drang, Wasserlassen zu müssen.

Dieser intelligente Mechanismus funktioniert nur dann, wenn alle Strukturen des Trampolins heil sind. Sind die Bänder oder die Membran zum Beispiel durch Geburten überdehnt, kann das Trampolin von den Beckenbodenmuskeln nicht mehr gespannt und damit der Blasenboden nicht mehr ausreichend angehoben werden. Die Membran oder Bänder hängen durch. Die Patientin verspürt schon bei geringer Blasenfüllung Harndrang, gegen den sie nicht angehen kann. Urinverlust ist die Folge.
Abhängig davon, an welcher Stelle und wie ausgeprägt Schäden im Trampolin vorhanden sind, können weitere Beeinträchtigungen der Blasen- und Beckenbodenfunktion auftreten:
Wenn das Gewebe vorne lose ist, kann die Harnröhre beim Husten, Niesen, Pressen, Laufen und beim Sport nicht mehr ausreichend verschlossen werden. Unkontrollierter Urinabgang (Einnässen) ist die Folge (= Belastungsinkontinenz).

Erschlafftes Gewebe in Beckenmitte geht oft mit häufigem Wasserlassen, ständigem Harndrang und Urinverlust vor Erreichen der Toilette einher (= Dranginkontinenz).
Defektes Gewebe im hinteren Bereich ist eher mit Blasenentleerungsstörungen, Restharn und nächtlichem Harndrang vergesellschaftet. Nur über eine genaue, auf die einzelne Patientin zugeschnittene Diagnostik wird man den verursachenden Defekt finden und gezielt behandeln können.

Drei praktische Beispiele

Ich möchte ihnen an drei Beispielen zeigen, dass das Problem Harninkontinenz völlig unterschiedliche Ursachen haben kann und daher ganz unterschiedlich behandelt werden muss.
Diese drei Frauen konnten seit einiger Zeit ihre Blase nicht mehr kontrollieren. Bei körperlicher Belastung ging Urin ab, ohne dass es aufgehalten werden könnte. Sie waren ständig nass und trauten sich kaum noch an die Öffentlichkeit. Alle drei hatten Kinder geboren und waren zwischen 55 und 85 Jahre alt.

Bei der Untersuchung der ersten Patientin fiel auf, dass bei ihr vor allem ein Problem im vorderen Scheidenbereich vorhanden war. Die Ultraschall-Untersuchung zeigte, dass das vordere, für den Blasenverschluss notwendige Band überdehnt war. Beim Husten öffnete sich die Blase und es floss unkontrolliert Urin ab.
Die Behandlung bestand in einer operativen Erneuerung des geschädigten vorderen Bandes und einer Straffung des erschlaffen Gewebes unter der Harnröhre. Die Patientin konnte drei Stunden nach der Operation normal Wasser lassen, war kontinent und hatte kaum Schmerzen.

Bei der Untersuchung der zweiten Patientin fand sich eine starke Senkung des hinteren Scheidenbereiches. Die Blase war gefüllt, obwohl die Patientin versucht hatte, ihre Blase zu entleeren. Beim Husten floss tropfenweise Urin ab.
Bei dieser Patientin hatten die hinteren Bänder und das hintere Scheidengewebe nachgegeben, wodurch eine Blasenentleerungsstörung entstanden und die Blase ständig gefüllt war. Bei Belastung kam es wie bei einem überlaufenden Fass zum ständigen unkontrollierten Flüssigkeitsabgang.
Die Therapie bestand in einer operativen Erneuerung des hinteren Bandes und einer elastischen Straffung der erschlafften hinteren Scheidenwand. Die Patientin konnte am selben Tag Wasser lassen und ihre Blase nahezu vollständig entleeren.

Bei der dritten Patientin waren nach einer Gebärmutterentfernung drei weitere Operationen am Blasenhals wegen unkontrolliertem Urinabgang durchgeführt worden. Jetzt konnte sie ihre Blase gar nicht mehr kontrollieren, wobei vor allem beim Aufstehen vom Stuhl und aus dem Bett reichlich Urin abfloss.
Bei der Untersuchung fiel im mittleren Scheidenbereich eine derbe Narbenplatte unter der Blase auf. Die Harnröhre war starr wie ein Plastikrohr. Dadurch verhielt sich die Blase wie eine Gießkanne. Beim Aufstehen floss der Blaseninhalt ohne Kontrolle ab (siehe Abbildung: Prinzip des massiven Urinverlusts bei Narben (schwarz) am Blasenhals. Oben links: Im Liegen füllt sich die Blase. Oben rechts: Beim Aufrichten beginnt Urin aus der Blase zu fließen, da der Blasenhals starr wie bei einer Gießkanne ist (schwarz). Unten links: Beim Aufstehen entleert sich schlagartig reichlich Urin. Unten rechts: Beim Erreichen der Toilette ist nur noch wenig Urin in der Blase).
Die Therapie bei dieser Patientin bestand in einer operativen Entfernung des Narbengewebes. Die Wunde wurde dann mit einem elastischen Haut-Fett-Muskellappen aus der großen Schamlippe gedeckt. Dieses gesunde Gewebe verhindert eine erneute Narbenbildung. Die Patientin war sofort nach der Operation kontinent, hatte kaum Schmerzen und konnte normal Wasser lassen.

Kommentar

Obwohl alle drei Frauen das scheinbar gleiche Problem hatten, waren völlig unterschiedliche Ursachen für ihren unkontrollierten Urinabgang verantwortlich. Es gibt noch eine Reihe weiterer Störungen, die zur Harninkontinenz führen. Um den Leser nicht zu verwirren, habe ich mich auf drei gut verständliche Beispiele beschränkt. Aus diesen geht eindeutig hervor, wie wichtig eine genaue Untersuchung vor jeder Behandlung ist.
Die daraus abgeleiteten operativen Vorgehensweisen haben den drei Frauen die Kontrolle über ihre Blase und damit ihre Lebensqualität zurückgegeben. Jede betroffene Frau sollte daher darauf achten, dass sie zu einem Arzt geht, der sich intensiv mit den komplizierten Abläufen im Beckenbodenbereich beschäftigt hat. Nur wer die Abläufe versteht, kann Schäden erkennen und korrigieren.

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