Zwischen Reflexion, Rollenerwartung und Beziehung
„Ich brauche keine großen Interventionen. Ich will einfach vorankommen.“
So oder so ähnlich steigen viele Männer in ein Coaching ein. Sie kommen mit einem Anliegen, oft klar benannt: Karriere, Beziehung, Konflikte, Stress.
Was sie selten aussprechen, aber oft mitbringen, tiefe Verunsicherung, Erschöpfung, Orientierungslosigkeit, Schuldgefühle. Und Scham. Der Gedanke: Ich bin nicht gut genug.
Ein stiller, innerer Leidensdruck kaum sichtbar, aber schwer spürbar.
Coaching bietet dann einen scheinbar passenden Rahmen für einen Mann.
Denn „Therapie“ schreckt ab. Noch immer.
„Ich bin doch nicht kaputt!“
Männer suchen seltener psychosoziale Hilfe und oft erst dann, wenn es fast nicht mehr anders geht. Die Gründe dafür sind vielfältig. Aber einer zieht sich durch… das gesellschaftliche Bild von Männlichkeit. Wer als Junge gelernt hat, dass Autonomie, Stärke und Kontrolle wichtiger sind als Austausch, Gefühl oder Abhängigkeit, tut sich auch als erwachsener Mann schwer, um Unterstützung zu bitten.
Coaching scheint hier die „bessere“ Wahl zu sein… Es klingt nach Effizienz, Zielorientierung, Aktivität nicht nach Verletzbarkeit. Männer können ihre Selbstwirksamkeit bewahren und gleichzeitig ins Gespräch kommen. Genau darin liegt das Potenzial aber auch die Grenze dieses Formats.
Coaching ist keine Psychotherapie und auch kein Ersatz für ärztliche oder psychiatrische Begleitung. Das gilt besonders bei diagnostizierbaren psychischen Erkrankungen, akuten Krisen oder Suchtthematiken. In diesen Fällen braucht es eine therapeutisch oder medizinisch fundierte Versorgung.
Dennoch hat Coaching in der Männerarbeit eine besondere Rolle. Viele Männer bringen Berührungsängste mit, wenn es um psychosoziale Beratung oder Therapie geht. Coaching erscheint „sicherer“, da es weniger mit dem Eingeständnis von Hilfebedürftigkeit verbunden ist. Dadurch kann Coaching bei entsprechender professioneller Haltung eine Brücke sein. Es ersetzt keine Therapie, kann aber der Schritt davor sein. Und manchmal der erste, der überhaupt möglich ist.
Ein Mann sagt oft: Ich habe Burnout.
Das zeigt: Da hat jemand lange durchgehalten, viel geleistet, viel getragen.
Aber nicht selten steckt mehr dahinter zum Beispiel eine depressive Episode oder ein ungelöstes Anpassungsthema.
Geschlechterreflektierte Männerarbeit nimmt ernst, dass Männlichkeit erlernt ist und dass Männer mit bestimmten Strategien in Beratung oder Coaching gehen. Theunert und Luterbach (2025) beschreiben diese als „Bewältigungsprinzipien des Mannseins“:
Diese Muster sind nicht per se „schlecht“. Sie haben biografisch oft Sinn gemacht. Aber sie greifen zu kurz, wenn existenzielle Themen aufbrechen – in der Beziehung, im Beruf, im Inneren.
Beratung ist nie neutral. Jede Begegnung ist geprägt von gesellschaftlichen Normen, Machtverhältnissen und Geschlechterbildern auf beiden Seiten.
Geschlechterreflektiertes Arbeiten bedeutet daher:
Eine zentrale Einsicht könnte sein, dass Männerarbeit nicht „Coaching für Männer“ ist, sondern Beziehungsgestaltung unter geschlechtsspezifischen Bedingungen.
Reflexion statt Reparatur.
Typisch männliches Verhalten in Beratungsgesprächen Rückzug, Rationalisierung, Vermeidung ist nicht automatisch Widerstand. Es kann auch ein Schutz sein. Oder schlicht das Einzige, was bisher funktioniert hat. Aufgabe der Fachkraft ist es, diese Muster zu erkennen und neue Räume zu öffnen. Nicht durch Konfrontation, sondern durch Resonanz.
Die Beziehung ist dabei entscheidend. Männer spüren sehr genau, ob sie ernst genommen werden. Ob sie mit ihrem Tempo gesehen werden. Ob jemand präsent bleibt auch, wenn es still wird.
Wer mit Männern arbeitet, braucht mehr als Tools. Es braucht eine professionelle Grundhaltung:
Der Männertherapeut im Mantel eines Coaches, das ist kein Trick.
Sondern eine Realität.
Männer kommen oft nicht zur Therapie und psychosozialen Beratung.
Aber sie kommen ins „Business Coaching.“
Die Frage ist: Was machen wir daraus?
Bleiben wir an der Oberfläche?
Oder trauen wir uns mit Klarheit, Wissen und Nähe dorthin zu gehen, wo Veränderung beginnt?
Nicht trotz, sondern wegen der Maske.
Und weil jemand da ist, der sieht, was dahintersteckt.
Denn die Zahlen sind eindeutig: Männer suchen seltener Hilfe, aber sterben deutlich häufiger durch Suizid. Rund drei Viertel aller Suizidtoten in Deutschland sind männlich.
Dahinter steht selten ein spontaner Entschluss, sondern oft ein stiller, über Jahre ertragener Leidensdruck. (Wenn du selbst betroffen bist oder dir Sorgen um jemanden machst: Du bist nicht allein. Hilfe ist rund um die Uhr erreichbar, anonym und kostenfrei: 0800 111 0 111, 0800 111 0 222, 116 123. www.telefonseelsorge.de)
Viele Männer greifen zu ungesunden Bewältigungsstrategien: Rückzug, Alkohol, Verdrängung, Hyperfunktionalität. Sie halten durch, aber verlieren sich dabei selbst.
Genau hier liegt die Verantwortung im Zugangspunkt „Coaching“ nicht Diagnosen zu stellen, aber sensibel zu erkennen, wann es nicht mehr um Zielerreichung geht, sondern um Halt. Und Männer zu ermutigen, sich an ihren Vertrauensarzt zu wenden.
Der Schlüssel ist nicht die Methode. Sondern die Haltung. Und die Bereitschaft, auch das auszuhalten, was schwer benennbar ist.
Nicht alles kann im Coaching gelöst werden.
Aber manches kann dort beginnen.
Und eine tragfähige Beziehung kann einem Menschen das Leben retten.
Disclaimer:
Coaching oder Mentoring ersetzt keine medizinische oder psychotherapeutische Behandlung. Bei Anzeichen einer psychischen Erkrankung, akuten Krisen oder Suizidgedanken ist professionelle Hilfe erforderlich z. B. durch eine ärztliche, psychiatrische oder psychotherapeutische Fachperson. Coaches sind in der Verantwortung, diese Grenzen zu erkennen und klar zu kommunizieren.
Literaturhinweise
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