Artikel 19/10/2019

Wenn Familie krank macht: So kann eine Therapie helfen

Thomas R. Schopf Arzt
Thomas R. Schopf
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Familie ist gesund – eigentlich. Für ein soziales Tier wie den Menschen ist es mehr als gesund, in stabilen Beziehungen zu leben. Es ist sinnstiftend und emotional erfüllend, sich für andere einzusetzen und zu wissen, dass andere für einen da sind. Das erklärt, warum Menschen in Partnerschaften statistisch länger und gesünder leben als Alleinstehende.

Häufig verschwinden selbst drastische Symptome spurlos, sobald sich ihr Träger verliebt und eine erfüllte Partnerschaft begründet. Oder es bessern sich auch langwährende Erkrankungen, wenn alte Streitigkeiten im familiären Umfeld beigelegt werden.

Wie kann Familie krank machen?

Wie können sich Beziehungen so nachhaltig und tiefgreifend auswirken? Und wie bekommt man wieder Gesundheit in die Familie und heilt schädigende Beziehungen?

Viele Patienten in der psychotherapeutischen Praxis suchen die Wurzeln ihres Leides nicht in der Familie. Sie kommen mit psychischen Beschwerden wie Angst, Depressionen, unangemessener Traurigkeit oder Zwangsgedanken. Sie leiden unter psychosomatischen Beschwerden oder ihrem Verhalten, zum Beispiel, wenn Sie zu viel oder zu wenig essen oder rauchen. Sie versuchen bereits länger erfolglos ihre Gesundheit über Diäten, Vitamine oder alternative Heilmethoden zu fördern. Dabei unterwerfen sie sich den verschiedensten Behandlungen, bevor sie in eine geeignete Psychotherapie kommen. Doch meistens stellt sich das innere Gleichgewicht erst dann ein, wenn sie sich dem Ursprung ihrer Beschwerden zuwenden: den Beziehungen in denen sie leben.

Manchmal ist es die Beziehung zu sich selbst, die krank macht. In den anderen Fällen sind es die Beziehungen zu unseren Nächsten. Und auch die Beziehung zu uns selbst „erlernen“ oder entwickeln wir aus den Erfahrungen, die wir mit anderen machen und gemacht haben.

Wie entstehen Beziehungen mit enger Bindung?

Das Besondere an familiären oder auch anderen engen Beziehungen ist, dass sie auf intensiven Bindungen beruhen. Wen man von klein auf kennt, der hinterlässt auch intensive Spuren im Gehirn, der verankert sich tief im Erleben der eigenen Existenz. Mit wem man intensive Erfahrungen teilt, egal ob Freude oder Leid, mit wem man durch dick und dünn gegangen ist, der hat sich tief in die eigene Seele eingegraben.

Es entstehen existenzielle Beziehungen. Diese besondere Beziehung kommt in der Redewendung „Blut ist dicker als Wasser“ zum Ausdruck. Dabei kommt es weniger darauf an, ob die Familienmitglieder wirklich blutsverwandt sind. Wichtiger ist, ob sie in einer existenziellen Beziehung zueinander bestehen. In den nachfolgenden Beispielen ist exemplarisch dargestellt, wie sich bereits die Umstände zum Beginn des Lebens entscheidend auswirken können.

Ein adoptiertes Kind steht seinen Adoptiveltern meist sehr nahe. Üblicherweise hat sich das Paar nach reichlicher Überlegung gewissenhaft für das Kind entschieden und sich dann um dessen Wohl bemüht. Manchmal steht es seinen Eltern näher als zum Beispiel ein leibliches Kind, das ungeplant gezeugt wurde und als „Heiratsgrund“ verantwortlich gemacht wird. Verantwortlich dafür, dass das Umfeld seine Eltern zu einer Heirat drängt.

Nicht selten projizieren Eltern in solchen Fällen durch ein kontinuierliches „Wegen Dir konnte ich nicht/musste ich…“ Schuldgefühle auf sie, die so bereits mit der Muttermilch aufgenommen werden. Das Kind kommt unschuldig auf die Welt, doch es wird in einen familiären Rahmen hineingeboren, der es erheblich prägt.

Auch Kinder, deren Entstehung eine Gewalterfahrung beinhaltet, erleben ganz besondere Bedingungen. Ist ein Kind das Ergebnis einer Vergewaltigung oder hat es einen Abtreibungsversuch überlebt, mit dem es am Geborenwerden gehindert werden sollte, prägt diese Gewalt häufig das emotionale Klima, in dem es aufwächst. Für die Mutter bedeutet es eine große Herausforderung, den Schmerz einer Vergewaltigung zu überwinden.

Ohne es zu wollen, erinnert das Kind die Mutter an die Umstände seiner Zeugung, was zu bewusst oder unbewusst geäußerten Reaktionen führt. Auch bei der missglückten Abtreibung spielen Schuldgefühle eine wesentliche Rolle. Entweder wird das Kind für sein Überleben verantwortlich gemacht oder die Mutter empfindet selbst eine tiefe Schuld über den gescheiterten Versuch. In beiden Fällen wirkt es sich prägend auf das Kind aus und beeinflusst meist massiv das Selbstwertgefühl.

Welche Rolle spielen Erwartungshaltungen?

Auch die Väter beeinflussen ihre Nachkommen, je nachdem mit welchen Erwartungen und Gefühlen sie ihrem Kind begegnen. Ein Vater, der sich intensiv einen Stammhalter wünscht, macht es einem Mädchen oft schwer, sich von ihm geliebt zu fühlen. Doch auch Jungen können sich falsch fühlen oder das Gefühl entwickeln, den Vater oder die Mutter zu enttäuschen.

Dabei ist es egal, ob Vater oder Mutter tatsächlich enttäuscht sind. Denn auch wenn das Kind das nur empfindet und sich für eine mutmaßliche oder aus einem ganz anderen Gebiet stammende Enttäuschung verantwortlich fühlt, hinterlässt ein solcher Schmerz manchmal lebenslange Spuren.

Ganz oft prägen die empfundenen Erwartungen und Gefühle der Eltern die Kinder viel mehr als die bewusst geäußerten. Hundehalter bewundern zum Beispiel oft das Einfühlungsvermögen ihrer vierbeinigen Freunde. Doch so wie ein Hund die Gefühle seines Halters zu lesen vermag und darauf reagiert, tun es auch kleine Kinder.

Wie können Kinder das Familienleben der Eltern beeinflussen?

Kinder nehmen in einem Familiensystem bestimmte Rollen oder Positionen ein, die sich aus der Dynamik der Eltern und der ansonsten schon vorhandenen Familienmitglieder ergeben. Eine Herausforderung im Leben ist, diese Rollen im Laufe des Erwachsenwerdens zu verlassen, um nicht zeitlebens von ihnen geprägt zu werden. Das ist vor allem dann von Bedeutung, wenn es sich bei den Positionen um extreme Ausprägungen handelt.

Hier ein paar Beispiele:

Wenn es mindestens zwei Kinder gibt, dann nehmen die beiden erstgeborenen Kinder meist zwei typische Rollen ein. Sie teilen die Rolle des Fahnenträgers und des Rebellen unter sich auf – etwas häufiger mit dem erstgeborenen Kind als Fahnenträger. Nur selten wird diese Konstellation durchbrochen, meist dann, wenn einschneidende Ereignisse die Familie erschüttern. Gibt es zahlreiche Kinder in der Familie, sind die letztgeborenen häufig die Nesthäkchen, die das Nest nicht verlassen dürfen. Manchmal werden sie mit dem unausgesprochenen Auftrag gezeugt oder erzogen, sich um die alternden Eltern zu kümmern.

Sind jedoch die Ressourcen in der Familie knapp – materiell und/oder emotional – sind die letztgeborenen Kinder auch mal „Überlaufkinder“: Kinder, durch deren Existenz das familiäre Fass überläuft. Für das erste Kind hat es gut gereicht, vielleicht war es ersehnt und willkommen. Beim zweiten steigt der Druck bereits und beim dritten bricht das familiäre System unter dem Druck fast oder faktisch zusammen.

Hieraus ergeben sich dann ganz andere Konsequenzen als für ein letztgeborenes Kind, bei dem sich die ganze Familie, Eltern und ältere Geschwister über den Neuzugang freuen und ihn entsprechend feiern. Überlagert werden solche systemischen Rollen noch durch die Erwartungen und Erlebnisse der Familienmitglieder.

Betrachtet man eine Familie als Gesamtsystem, das aus den Wechselbeziehungen ihrer Mitglieder entsteht, ergeben manche Erkrankungen und Störungen plötzlich Sinn. Sinn, der sich aus der Dynamik des Individuums nicht nachvollziehen lässt.

Oft sind es nämlich die Symptomträger in der Familie, die das System stabilisieren oder gar zusammenhalten. Die magersüchtige Tochter zum Beispiel, die dem Tode nahe ihre Eltern dazu bringt, ihren kalten Ehekrieg zu unterbrechen und sich an einen Tisch zu setzen. Oder der aufsässige Schüler, der mit seinen Verhaltensauffälligkeiten die aggressiven Tendenzen der Eltern zum Ausdruck bringt, die von diesen allerdings verleugnet werden. Selbst suizidale Tendenzen erklären sich oft erst durch die Sicht auf die familiäre Gesamtsituation.

Es ist herausfordernd an diesen krankmachenden Beziehungen, dass sie nicht bewusst erlebt und wahrgenommen werden. Die kalte Ehe wird unbewusst verdrängt, ebenso wie die Angepasstheit der Eltern ein unbewusst motivierter Wesenszug ist. Schnell ist dann die Rede von Schuld, gerade wenn Eltern über die emotionalen Störungen ihrer Kinder betroffen sind. Ein Medikament, mit dem man einen entgleisten Hirnstoffwechsel beeinflusst, entlastet alle Beteiligten von einer Schuld.

Doch hat es nur in den seltensten Fällen mit vorsätzlichem Handeln zu tun. In den meisten Fällen erliegen die Eltern einfach nur ihren eigenen unbewussten Gefühls- und Verhaltensmustern. So hat es auch wenig Sinn zum Beispiel als Mittvierziger seinen Eltern die Schuld für das aktuelle Verhalten zu geben. Meist entspricht es dem Versuch, die Verantwortung für das eigene Verhalten zu verweigern.

So kann eine Therapie helfen

Ziel einer nachhaltigen Therapie ist es immer, eine gesunde Verantwortung zu entwickeln. Eltern wieder in ihre gesunde Autorität einzusetzen, Kinder dieser Autorität zu unterwerfen, bis sie in der Lage sind, ihr Leben eigenverantwortlich zu führen. Und den erwachsenen Patienten zu eben dieser Verantwortung zu begleiten. An den Herausforderungen zu wachsen, sich abzulösen aus einer kindlichen Opferhaltung, um ein verantwortliches und gestaltendes Mitglied der eigenen Familie zu werden.

Diese Leistung ist letztendlich der Weg in die Gesundheit: Die liebevolle Selbstannahme wie auch die liebevolle Gestaltung der Beziehungen zu seinen Nächsten. Bei der Begegnung mit sich selbst und der Entwicklung einer authentischen und sinnhaften Lebensgestaltung sind Psychotherapeuten mit ihrem Werkzeug gerne behilflich und begleiten durch den Prozess.

Die Nutzung von Hypnose oder anderer unbewusst wirksamer Techniken ist hierbei von zentraler Bedeutung. Denn es gilt, die unbewussten Mechanismen erkennbar zu machen, die bislang die Selbstheilungskräfte blockiert haben.

Ein Therapeut versteht sich als Anwalt freier Selbstentwicklung, als Katalysator kreativer Prozesse zur sinnhaften Lebensgestaltung. Und die Entwicklung gesunder Beziehungen ist ein wichtiger Teil dieser Arbeit. Einer nie langweiligen Arbeit, mit jedem Menschen immer wieder herausfordernd.

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