Artikel 23/04/2020

Ein häufiger Grund für chronische Schmerzen: Ursachen, Symptome & Therapie der Haltungskrankheit

Dr. med. Christoph J. Bäumer Orthopäde & Unfallchirurg, Spezieller Schmerztherapeut, Chirotherapeut
Dr. med. Christoph J. Bäumer
Orthopäde & Unfallchirurg, Spezieller Schmerztherapeut, Chirotherapeut
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Die Haltungskrankheit in der Orthopädie – bedeutsam, häufig und doch selten als solche diagnostiziert.

Definition: Was ist die Haltungskrankheit?

Die Haltungskrankheit ist eine fachbereichsübergreifende Erkrankung. Sie wird unbehandelt meist chronisch oder verläuft fortschreitend. Außerdem gilt sie als aggressiv und verursacht einen hohen Leidens- sowie Kostendruck.

Häufig bleibt sie unerkannt und gilt als „endemisch-zivilisationsbedingt“.

Was sind die Ursachen?

Nahezu jeder Mensch wird im Laufe seines Lebens haltungskrank, durch Veranlagung (Genetik und Epigenetik), Lifestyle und andere Belastungen des Lebens. Am häufigsten entsteht sie jedoch durch die Schwerkraft im zweifüßigen Gangbild. Über die Hälfte aller Kinderfüße werden im Wachstum krank., Die Haltungskrankheit kann sich dabei z. B. als Bisslagenstörung („CMD’), Rückenschmerz („Ischias’), Hüft-, Knie-, Fuß- oder auch Nackenschmerz darstellen.,

Meistens sind die Verschleißerscheinungen, die sich auf dem Röntgenbild abzeichnen, gar nicht der eigentliche Grund für den Schmerz. Wenn z. B. der akute Hexenschuss abgeklungen ist, ist zwar auch der Verschleiß noch da. Aber der Schmerz ist meist nicht mehr in der gleichen Struktur vorhanden. Es geht also beim Schmerz häufig nicht ursächlich um Strukturprobleme.

Wie entsteht die häufige und schmerzhafte Haltungskrankheit?

Die zivilisatorischen Einflüsse sind wahrscheinlich sehr relevant.,

Damit ist unsere kulturell induzierte Reduktion der körperlichen Aktivität pro Tag gemeint. Auf der Evolutionsstufe des Sammlers und Jägers haben wir täglich noch ca. 20.000  Schritte zurückgelegt. Auf der aktuellen Evolutionsstufe des Sitzers und Onlinebestellers sind es nur noch wenige hundert.

Hinzu kommen die stetige Gewichtszunahme, die Veränderung der betrieblichen Welt mit der Integration des Menschen in computergesteuerte Produktions- und Dienstleistungsprozesse mit ihren innewohnenden Stressfolgen.

Die überall flachen und harten Fußböden drinnen und draußen ohne jegliche Stimulation der Fußsohlen tragen ebenfalls erheblich zur Haltungskrankheit und zu lymphatischen und venösen Problemen des Menschen bei.,

Klinisches Bild und Symptome

Die Haltungskrankheit betrifft alle „zivilisierten“ Menschen mehr oder weniger stark ausgeprägt. Das Kompensationsverhalten und -vermögen der Haltungskrankheit des Einzelnen spielt dabei eine wichtige Rolle. Sie entscheiden weniger darüber ob, sondern eher wann, wie und wo sie zu schmerzhaften körperlichen Folgen führen.

Der jeweilige Ort der geringsten Stabilität bzw. Kompensationsfähigkeit im Menschen wird dabei symptomatisch – daher hat diese Krankheit intra- und interindividuell sehr unterschiedliche Ausprägungen und Erscheinungsbilder.

Die schmerzhaften Folgen der resultierenden Fehlbelastungen infolge der Haltungskrankheit bestehen fast ausnahmslos in entzündlichen Zuständen von

  • Gelenken (Arthrose und Arthritis, Instabilitäten)
  • Muskeln (Myopathie, Triggerpunkte, Mikro- und Makrorisse)
  • deren Ansätzen (Tennis- und Golferellenbogen, Patellaspitzensyndrom, Pes-Anserinus-Syndrom, Bicepssehnensyndrom, Supraspinatussehnensyndrom etc.)
  • Faszien und Sehnen wie deren Begleitgeweben (Tenovaginitiden, Springende Finger, Bursitiden etc.)

Die Bandscheiben gehören als spezialisiertes Bindegewebe auch in diese Aufzählung. Denn als Faserknorpelgebilde können sie ebenfalls degenerativ erkranken und sich entzünden (aktivierte Osteochondrose).

Der Bandscheibenvorfall ist ebenfalls ein zwar selteneres aber doch relevantes schmerzhaftes und bei Nervenschäden auch operationsbedürftiges Krankheitsbild. Bei ihm handelt es sich um einen Schaden, der durch Rissbildungen im Faserring der Zwischenwirbelscheibe mit Austritt von Gallertkernmaterial entsteht.

Nicht jeder Mensch mit Tennisellenbogen hat die komplexe Form der Haltungskrankheit. Aber jeder Mensch mit der Haltungskrankheit hat ein erhöhtes Risiko, einen Tennisellenbogen oder eine anderen Störung aus der oben genannten Liste zu bekommen.

Viele Menschen mit anderen organischen Erkrankungen (Organe des Beckens, des Bauchraums oder des Brustkorbes) haben eine unbewusste Wahrnehmung. Diese Erkenntnis fußt auf dem wissenschaftlich-neurologischen Konzept der Metamerie (embryonale segmentale Organisationsstruktur, wissenschaftlich fundiert). Die unbewusste Wahrnehmung kann nach ebenfalls wissenschaftlich nachgewiesenen Mechanismen zur Haltungsveränderung beisteuern.

Umgekehrt ist der Informationsfluss aus einem gestörten Haltungssegment als somatovisceraler Reflex auch auf die Organe möglich.

Diese deutsch-schulmedizinisch bekannten neurologischen Informationswege sind auch die Grundlage für die amerikanisch-schulmedizinische Lehre der Osteopathie. Des Weiteren der chinesisch-schulmedizinischen Lehre der Akupunktur und Tuina-Massage. Nervliche Regulation ist nie eine Einbahnstraße.

Die Haltungskrankheit darf also tatsächlich als sehr häufige, autoaggressive und fortschreitende Krankheit eingestuft werden. Möglicherweise ist sie sogar die teuerste Krankheit in den zivilisierten Ländern. Zumindest wenn man alle Facetten mit Diagnosen und den diagnosebezogenen Summen der direkten und indirekten Kosten zusammenrechnet.

Problematik und Diagnostik

Ein orthopädisches Schmerzproblem ist also in Ursachen und Folgen immer eine Ganzkörperkrankheit, weil das Haltungssystem des Menschen eben als Einheit reagiert. Moderne wissenschaftliche Sichtweisen der menschlichen Biomechanik stützen diese Sichtweise.

Um diese Krankheit in ihrer Ausprägung und Verursachung gut zu verstehen, bedarf es einer umfangreichen körperlichen Untersuchung.

Dafür sind häufig Röntgenbilder und Schichtaufnahmen sowie Laboruntersuchungen und weitere ergänzende Untersuchungen wie technische Haltungs- und Ganganalysennotwendig. Des Weiteren die vegetative Funktionsanalyse zur Erhebung einer möglichen mitursächlichen Stresskrankheit.,

Mit Hilfe dieser Untersuchungen können die Behandler ein Verständnis, eine Erklärung und die Behandlung für die Haltungskrankheit entwickeln. Für alle Patienten spielt die Früherkennung in allen Ausprägungen und in allen Lebensaltersstufen eine wichtige Rolle. Denn sie trägt zur effektiven Vorbeugung dieser Erkrankung bei.

Denn: Nahezu jeder Arzt in jeder fachlichen Richtung und Einrichtung trifft in seinem Berufsalltag auf Symptome der Haltungskrankheit. Dazu gehören insbesondere

Wenn die ersten Symptome einer schweren systemischen Erkrankung auftreten, wird so gut wie nie die eigentlich zugrundeliegende verursachende Diagnose festgestellt und therapiert. Bei der Haltungskrankheit kann das z. B. der Rückenschmerz sein. Ähnlich ist es bei der Knochenmangelkrankheit (Osteoporose). Hier kann z. B. eine Schenkelhalsfraktur vorliegen, die jedoch nicht als Ursache der Osteoporose erkannt wird.

Das ist nicht gut, bedeutet es doch ein besonders hoch zu bewertendes und zum Teil sicher vermeidbares Leid von Millionen von Menschen.

Elemente der Haltungskrankheit wurden zuvor schon beschrieben. Zum Beispiel vom Arzt und Osteopathen Dr. Gordon Zink in den USA in den 1960ern, . Des Weiteren von den französischen Osteopathen der Posturodontie in den 1970ern M.A. Clauzade und B. Darraillans.

So läuft die Therapie ab

Die Behandlung dieser Krankheit ist komplex, denn die genutzten Mechanismen sind immer fachübergreifend.,  Das Behandlungsziel des interdisziplinären Teams mit dem multimodalen Therapieplan ist es dabei immer, dem jeweiligen menschlichen Strukturkörper die individuell bestmögliche Funktion zu ermöglichen.

Die zu berücksichtigenden und zu verbessernden menschlichen Funktionen sind dabei mechanisch, neurologisch und biochemisch zu verstehen.

Das notwendige multimodale biomedizinische Modell trägt dem hochkomplexen Krankheitsbild der Haltungskrankheit Rechnung. Es erklärt die Grundlagen dieser komplexen Krankheit und deren Behandlungsmethoden sowie Präventionsoptionen.

Akute Schmerzbehandlung

Die Akutbehandlung ist so wie bei der schmerzhaften Region aus orthopädischer und schmerztherapeutischer Sichtweise üblich. Eine effektive Behandlung wird in der Regel zusammengestellt aus

  • Medikamenten (Schmerzmitteln, Entzündungshemmern, Muskelentspannern nach Wahl des Arztes)
  • Spritzenbehandlung mit oder ohne Röntgenkontrolle an die vermeintliche lokale Schmerzursache
  • Kälte- oder Wärmereize
  • Bandagieren
  • Massagen oder Krankengymnastik
  • Anleitung zum richtigen Verhalten

Körperliche Schonung ist meist nicht oder nur für begrenzte Zeit sinnvoll.

Ursachentherapie und Prävention

Der Schmerz muss weg und er darf nie chronisch werden. Denn chronische Schmerzen sprechen auf die oben genannten therapeutischen Maßnahmen häufig nicht mehr gut an. Therapien können dann sogar schädlich sein. Bei anhaltenden Schmerzbildern sollte also gegebenenfalls ein spezialisierter Arzt mit der Zusatzbezeichnung „Spezielle Schmerztherapie“ hinzugezogen werden.

Nach erfolgter Akutbehandlung, eventuell schon während der akuten Behandlung, kann es sinnvoll sein, die eigentlichen Gründe für den Schmerz zu therapieren: die Haltungskrankheit.

Durch die o.g. Diagnostik, die im Verlauf durchgeführt wurde, kann der eigentliche Grund des Schmerzes häufig schon benannt und behandelt werden. Im Rahmen der Haltungskrankheit sind für einen anhaltenden Behandlungserfolg z.B. zu behandeln

  • die Beckenfehlstellung
  • die fehlerhafte Balance im Fasziensystem
  • Gelenkfehlstellungen im Bereich der Wirbelsäule, der Rippen und des Beckens
  • Spannungsprobleme in wichtigen Muskeln wie z. B. dem Zwerchfell, dem Nackenmuskel und den Rücken- wie Gesäßmuskeln

Zusätzlich erhält der Betroffene Anweisungen dafür, was er selbst leisten kann und muss.

Aus den Daten der körperlichen Untersuchung und Vermessung von Haltungs- und Gangbild kann auch eine multimodale Funktionsfußbettung angepasst werden. Sie unterstützt die gute Haltung, Lymphdrainagen, Venenpumpen und die Muskelaktivierung aktiv.

Denn Fußschmerzen beim strukturgesunden Fuß ohne OP-Indikation sollten nicht mit passiv stützenden Einlagen versorgt werden. Sie belasten Füße, die ohnehin schon schwach sind, nämlich noch mehr.

Die Folge ist eine zunehmende Fehlstellung der Beine, des Beckens und der Wirbelsäule als sogenannte aufsteigende Störungskette.,

Es ist sehr wahrscheinlich, dass sie die Belastung durch die Haltungskrankheit mit dieser komplexen Therapie reduzieren lässt. Sie bringt die möglicherweise angeschlagene Struktur des jeweiligen Menschen in den bestmöglichen und damit wahrscheinlich schmerzärmeren Funktionszustand.,

Literatur

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  2. Clauzade, M., Marty, JP., Orthoposturodontie, Cómic, 1998
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